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Kein koloniales Raubgut ist diese griechische "Sieger"-Bronze; die Besitzansprüche sind aber auch hier umstritten. So fordert Italien vom amerikanischen Getty Museum seit Jahren erfolglos eine Rückgabe.

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Plädiert für mehr Bewusstsein dafür, woher die Dinge kommen: der Historiker Peter Frankopan.

Jonathan Ring

Seine Bücher packen Weltgeschichte an den Wurzeln. Sie führen zurück auf die Handelsrouten des alten Orients und erinnern daran, welche Errungenschaften des Ostens im Westen Karriere machten. In Wien war der britische Historiker Peter Frankopan kürzlich zu Gast, um über das abgelaufene "Jahr des europäischen Kulturerbes" zu sprechen. Ausgerufen war es von der EU worden. Genau diese sieht Frankopan in einer tiefen Krise.

STANDARD: Wie definieren Sie europäisches Kulturerbe?

Frankopan: Wir Europäer können zwar sagen, dass wir viel Gemeinsames haben, aber es scheint, als sei gerade die Unterschiedlichkeit das Entscheidende. Das heißt auch, dass kulturelles Erbe im Falle Europas immer eine konstruierte, kuratierte Version der Vergangenheit ist, in die möglichst viele einstimmen können. Es herrscht allerdings ein Ungleichgewicht insofern, als die Mainstream-Erzählung sehr auf die westliche Hälfte Europas konzentriert ist.

STANDARD: In Ihren Büchern zeigen Sie ja gerade, dass viele große sogenannte westliche Innovationen ihren Ursprung im Orient haben. Ist es wichtig, sich das stets vor Augen zu halten?

Frankopan: Einerseits kann man das natürlich für irrelevant halten. Wen kümmert es schon, dass östliche Erfindungen wie Algebra und Algorithmen nicht nur das Fundament für höhere Mathematik, sondern auch für künstliche Intelligenz gelegt haben? Aber ich denke, es ist sehr nützlich, sich daran zu erinnern, wer wann wo Innovation vorangetrieben hat und welche Auswirkungen das haben kann. Viel interessanter, als sich mit einzelnen Objekten und deren "exotischer" Herkunft zu beschäftigen, ist es, Veränderungsprozesse zu zeigen.

STANDARD: Wer heute von Kulturerbe spricht, landet schnell beim Unesco-Schutz. Kritiker meinen, die großräumige Unterschutzstellung von Bauwerken oder ganzen Stadtvierteln hemme Innovation und Veränderung. Was meinen Sie?

Frankopan: Es ist immer schwierig, eine Balance zwischen moderner Lebensart und Unterschutzstellung von Altem zu finden. Die eine Antwort gibt es hier nicht. Jede Stadt ist einzigartig und muss dementsprechend behandelt werden. Es stimmt schon, dass es einige Beispiele gibt, wo der Unterschutzstellung mehr Priorität eingeräumt wird als den tatsächlichen Bedürfnissen der dort lebenden Bevölkerung. Andererseits ist es immer leichter, Dinge zu zerstören oder verfallen zu lassen, als sie zu schützen. Ich bin für einen sensiblen, vernünftigen Umgang mit dem Thema und idealerweise für eine Einbindung der Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse. Das geschieht viel zu selten.

STANDARD: Es gibt eine laufende Debatte über den Umgang mit Kulturgütern aus der Kolonialzeit, die sich bis heute in den westlichen Völkerkundemuseen stapeln. Sollte es mehr Rückgaben geben?

Frankopan: Es müsste die Herkunfts- und Besitzgeschichte jedes einzelnen Objekts erforscht werden, denn hier hat jedes seinen eigenen Kontext. Erst dann kann man sich mit der Frage beschäftigen, wohin restituiert wird. Genau genommen müsste man dann aber auch den Blick weiten und sich fragen, welchen Binnenkolonialismus es in Zentraleuropa gegeben hat, etwa im Reich der Habsburger, der Preußen, Russen und so weiter. Beim Kolonialismus geht es um mehr als um Afrika, Asien und Amerika.

STANDARD: Also ist die Frage, wo beginnen und wo enden? Braucht es ein verbindliches Regelwerk wie die "Washington Principles" beim Thema NS-Kunstraub?

Frankopan: Jedes Land wird seine eigene Sicht auf diese Fragen haben, und es ist nur verständlich, dass Staaten, die historisch eher wenig in den Kolonialismus verwickelt waren, stärker für Rückgaben eintreten als die anderen. Ein verbindliches Regelwerk würde ich sehr begrüßen, aber es ist auch wichtig, genug Spielraum zu lassen, um jeden Einzelfall genau prüfen zu können.

STANDARD: Menschen reagieren oft abwehrend, wenn sie mit dem Thema konfrontiert werden. Sie versuchen, "positive" Aspekte des Kolonialismus hervorzuheben, wie etwa die Entwicklung moderner Infrastruktur in den Kolonien.

Frankopan: Es ist derzeit noch nicht möglich, eine historisch korrekte Sicht auf die Kolonialzeit zu bieten, die auch "positive" Aspekte miteinbezieht. Bevor der Westen aber auf seiner Sicht beharrt, wäre es ratsam, die andere Seite zu Wort kommen zu lassen. Es tut nicht weh zuzuhören. Wenn manche versuchen, die Kolonialzeit zu verteidigen, frage ich mich, warum diese Leute so unwillig sind, die andere Seite sprechen zu lassen. Es wird viele Jahre dauern, bis sich das ändert.

STANDARD: Diese Fragen berühren auch das Thema heutiger Entwicklungshilfe für den Globalen Süden. Wie denken Sie darüber?

Frankopan: Schon aus moralischer, aber auch aus politischer und pragmatischer Sicht ist diese Hilfe für mich noch immer absolut essenziell. In unserem heutigen Klima, wo alle Politiker davon sprechen, ihre Nation wieder groß zu machen, ist es aber leider so, dass sich der Wille, anderen zu helfen, sehr in Grenzen hält.

STANDARD: Wie sehen Sie den Brexit? Ist ein Grund dafür das mangelnde Zugehörigkeitsgefühl der "Insel" zu Kontinentaleuropa?

Frankopan: Es gibt viele Faktoren, weswegen Leute für den Brexit gestimmt haben. Ein Grund ist sicherlich, dass viele noch immer ein Geschichtsbild teilen, wonach Großbritannien das Recht auf eine Führungsrolle auf der Weltbühne habe und allein besser florieren könne. Das mag ein Mythos sein. Aber mich stört, dass viele, die über die EU sprechen, nicht ihre Probleme thematisieren: Sie ist schwach in der Entscheidungsfindung; ihre Antwort auf die Migrationsfrage ist beschämend; sie begünstigt ein "race to the bottom" beim Steuerwettbewerb; sie kooperiert nicht in dem Ausmaß mit dem Rest der Welt, wie sie vielleicht sollte. Es scheint, als sei die EU an einem Scheideweg. Und ich sehe, dass das Leben für uns alle härter wird.

STANDARD: Der Brexit als falsche Antwort auf berechtigte Fragen?

Frankopan: Ja. Ich würde mir mehr Politiker in Europa wünschen, die sich der wichtigen Fragen annehmen. Aber genauso wie Großbritannien in den eigenen Brexit-Spiegel blickt, ist die EU zuvorderst mit sich selbst beschäftigt. Es ist fast schon ironisch.

STANDARD: Viele sehen im Brexit und im Aufstieg der Rechten eine Antwort auf eine fehlgeleitete Globalisierung. Sie haben Globalisierungsphänomene über 5000 Jahre zurück bis in die Antike erforscht. Was kann man daraus lernen?

Frankopan: Die beste Lektion ist die der Anpassung. Wir sollten nicht ständig darüber reden, wer in der Globalisierung "gewinnt" und wer "verliert", es geht darum zu verstehen, was genau in der Welt gerade passiert und wie man sich daran am besten anpasst. (Stefan Weiss, 28.12.2018)