Geography matters: "Wenn die Politik nur die Städte erreicht, dann erreicht sie in Österreich je nach Zählweise 50, 55, vielleicht 60 Prozent der Bevölkerung", sagt Heinz Faßmann, der vor seinem Wechsel in die Regierung Professor für Geografie an der Uni Wien war.

Foto: Heribert Corn

Es tut sich etwas in der Peripherie. Populisten finden vor allem in den von den politischen Machtzentren entfernten Regionen Zuspruch. In den USA haben die Menschen "im Hinterland" Donald Trump ins Weiße Haus gebracht, der Brexit wurde vor allem außerhalb Londons gewählt, in Frankreich sind die Gelbwesten von weit entfernt nach Paris angereist, um zu protestieren. Was ist da los? Zeit für ein Gespräch über die Geografie politischer Räume und die räumlich-regionale Dimension von Politik. Es trifft sich gut, dass im Wissenschaftsministerium mit Heinz Faßmann ein Uniprofessor für angewandte Geografie, Raumforschung und Raumordnung sitzt. Als Ort drängte sich das Globenmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek auf.

Wissenschaftsminister und Geograf Heinz Faßmann im weltweit einzigartigen Globenmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Was lesen Sie als Geograf exemplarisch aus der US-Wahl, der Brexit-Abstimmung und den Gelbwesten-Protesten heraus?

Faßmann: Es gibt eine Korrelation zwischen Modernisierungsverlierern, die Angst vor sozialem Statusverlust haben, und dem Zuspruch zu populistischen Parteien und Antworten. Das wird durch einen Zentrum-Peripherie-Gegensatz verstärkt, denn in der Peripherie ist der Anteil derer, die um ihre Statusposition bangen, viel höher. Die geografische Peripherie ist in gewissem Sinne auch eine ökonomische.

STANDARD: Hat sich der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie verschärft? Möglicherweise auch durch die alles durchdringende Digitalisierung, die den Anschein erweckt, dass alles quasi losgelöst vom realen Ort möglich ist – Stichwort "Global Village" -, nur in letzter Konsequenz dann eben doch nicht oder nicht für alle?

Faßmann: Am Beginn eines Innovationszyklus werden immer die Zentren bevorzugt, weil dort Innovationen stattfinden. Damit ist auch eine gewisse ökonomische Performance verbunden. Wenn sich Innovationen verbreiten, kann auch die Peripherie partizipieren. Aber immer mit Zeitverschiebung. Wenn eine Innovation die Peripherie erreicht, gibt es im Zentrum vielleicht schon die nächste. Das Bild des Global Village war letztlich eine ungeografische Beschreibung. Es unterschätzte das Menschliche, die Face-to-Face-Kontakte, und überschätzte das Technologische. Man glaubte, alle Orte sind dann gleich, gleich erreichbar durch das Internet. In Wirklichkeit spielt sich nicht viel im Internet ab, sondern in der persönlichen Begegnung. Wer im Machtzentrum ist und dort zufällige Kontakte mit Entscheidungsträgern hat und einen Informationsvorteil verbucht, der nützt die Standortvorteile des Zentrums.

STANDARD: Die britische Geografin Doreen Massey hat 1984 proklamiert: "Geography matters", Geografie ist wichtig. Warum ist Geografie auch für die Politik wichtig?

Faßmann: "Geography matters" hat viel von der Realität eingefangen. Manchmal glaubt man, die Gesellschaft sei homogen, und alles sei in einem quasi dimensionslosen Raum. In Wirklichkeit haben wir erhebliche Gegensätze zwischen dem Zentrum und der Peripherie, zwischen Städten und dem ländlichen Raum, der sich abermals differenziert gestaltet. Dem muss man mit politischen Strategien Rechnung tragen. Wenn die Politik nur die Städte erreicht, dann erreicht sie in Österreich je nach Zählweise 50, 55, vielleicht 60 Prozent der Bevölkerung. Es gibt aber einen soliden ländlichen Raum, der ganz anders denkt.

STANDARD: Das sehen wir gerade in Frankreich. Dort sagte eine Gelbwesten-Aktivistin: "Die Eliten machen sich Sorgen um das Ende der Welt, wir um das Ende des Monats." Für sie ist der Verzicht auf Mobilität eine existenzielle Frage, während er für die "Globalisten" vielleicht nur einen Flug weniger nach Hawaii bedeutet. Das zeigt doch, dass bestimmte Maßnahmen ganz unterschiedliche Effekte haben, je nachdem, ob man "im Nabel" oder "am Ende der Welt" lebt.

Faßmann: Ja, ich glaube, das Problem jener, die Politik machen, ist, dass sie sich innerhalb einer sozialen Gruppe bewegen, nämlich der, die Politik betreibt und durchsetzt. Sie werden vielleicht noch begleitet von Medien, aber sie bilden einen eigenen Mikrokosmos. Und ich sehe das Zuhörenkönnen, das Sich-nicht-abhängen-Lassen von der Mehrheit der Bevölkerung und deren Sorgen und Ängsten schon als immanentes Problem der politischen Kommunikation.

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STANDARD: Der französische Geograf Christophe Guilluy, der über das Frankreich der Peripherie und das Bedrohungsgefühl der Menschen dort nachdenkt, konstatiert eine Absetzbewegung: "Die oberen, gebildeten Schichten verfallen nicht dem Populismus, weil sie unsichtbare Grenzen ziehen können. Sie praktizieren die soziale und kulturelle Trennung durch die Wahl ihrer Wohnviertel und Schulen." Eine These, der man schwer widersprechen kann, oder?

Faßmann: Der kann man kaum widersprechen. Das ist so: Die, die ökonomisch dazu in der Lage sind, verschaffen sich ihre eigenen Opportunitätsräume mit spezifischen Möglichkeiten – eigene Wohnviertel, eigene Schulen. Die haben daher auch keine Sorge vor dem Abgehängtwerden, weil sie Wahlmöglichkeiten haben. Jene, die dazu sozioökonomisch nicht in der Lage sind, haben Sorge, dass sie irgendwohin gedrängt werden, auch im Raum, und da nicht rauskommen.

STANDARD: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie als Bildungs- und Wissenschaftsminister aus dieser Analyse für Ihr Politikfeld?

Faßmann: Dahingehend sind wesentliche Forderungen, die im bildungspolitischen Diskurs auftauchen, auch von mir zu unterstützen, überhaupt keine Frage. Die soziale Durchlässigkeit in einem Schulsystem, das Chancen offeriert, ist wichtig. Ebenso profitiert ein Schulsystem von einem sozialen und ethnischen Mix, weil damit dort so etwas wie gesellschaftliche Realität einfließt. Das sind wichtige Aspekte, denen ich vollkommen zustimme: Opportunitäten schaffen, Möglichkeiten eröffnen.

STANDARD: Ich gehe davon aus, dass Sie als Parteifreier im ÖVP- Ministerteam nicht wollen, dass wir das als verbrämtes Plädoyer für eine gemeinsame Schule verstehen?

Faßmann: Politik kann Strukturen und Rahmenbedingungen schaffen, aber Eltern müssen dann auch selber die Verantwortung übernehmen und die Chancen nutzen. Wir haben ein kostenfreies Schulsystem, das mit gut qualifizierten Lehrkräften operiert. Das ist ein Privileg, verglichen mit den USA oder Großbritannien. Es ist ein offenes Schulsystem, das Chancen generiert, aber sie müssen auch wahrgenommen werden, und die Verantwortung kann man den Eltern auch nicht abnehmen.

STANDARD: Kann man diese Verantwortung wirklich allen abverlangen? Gibt es nicht auch Eltern, die schlicht nicht in der Lage sind, das zu leisten, unabhängig vom Wollen? Weil sie vielleicht selbst bildungsfern sind oder nicht über genug kulturelles Kapital verfügen?

Faßmann: Ja, ich bin sehr dafür, dass man auch hier Ermutigungsarbeit leistet und etwa Frauen und Mädchen für technische Berufe interessiert oder Kinder aus bildungsferneren Schichten aufruft, Chancen zu nutzen. Aber letztlich muss man in einer liberalen Gesellschaft sagen, es gibt auch Grenzen der staatlichen Einflussnahme. Es gibt auch Eigenverantwortung. Da bin ich als Liberaler vorsichtig mit zu viel Staat. Das Schulsystem kann letztlich nicht alles übernehmen.

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STANDARD: Sie zeigten 2002 im Buch "Räumliche Disparitäten im österreichischen Schulsystem", dass in Österreich die Quote des AHS-Oberstufen-Besuchs auf Ebene der politischen Bezirke von 6,7 bis 43,2 Prozent schwankt. Und Sie schrieben: "Wer schulische Qualifikationen erwirbt, der beweist nicht nur Talent oder Fleiß, sondern hat in vielen Fällen das Glück, eine ausreichende schulische oder universitäre Infrastruktur 'vor Ort' vorzufinden." Wie sieht Ihre Diagnose 16 Jahre später aus?

Faßmann: Das geografische Moment im Hintergrund lautet überspitzt formuliert: Liebes Kind, suche dir deine Eltern mit Bedacht aus. Man könnte hinzufügen: und deinen Geburts- oder Wohnort, weil damit natürlich viele Chancen und Möglichkeiten verbunden sind. In gewissem Sinne sind periphere Räume, wo man sehr viel mehr investieren muss, um zum nächsten Schulstandort zu kommen, bildungsbenachteiligt. Das ist ein Faktum. Dafür bieten periphere Räume andere Qualitäten als die zentralen Räume.

STANDARD: Haben Sie als Regional- und Stadtforscher, der sich seit Ende der 80er-Jahre mit Migrationsfragen beschäftigt, und jetzt als Minister nicht oft das Gefühl, dass andere, vorgelagerte Politikfelder nicht genug tun, um Segregationseffekte in der Schule zu verhindern, etwa die Wohnpolitik?

Faßmann: Ja, das glaube ich. Gerade im Bereich Stadtplanung oder Raumordnung sieht man zu wenig das Ganze. Man denkt vielleicht an den Standort, an die Architektur eines Wohnblocks, aber nicht an den kleinregionalen Zusammenhang. Und gerade die Frage der Segregation in der Schule ist letztlich immer nur eine Folge von Segregation im Wohnviertel. Da langfristige Maßnahmen zu setzen, wäre sehr wichtig. Wien hat da eine Tradition, wenn ich an die 20er, die Zwischenkriegszeit denke, diese Tradition sollte nicht abreißen, sondern neu aufleben. (Lisa Nimmervoll, 29.12.2018)