"Girl" erzählt von einem Mädchen, dessen Schmerz darin besteht, noch nicht Mädchen oder Frau genug zu sein.

Foto: Thimfilm

Manche Dinge lassen sich eben nicht verändern. Du kannst dir ja nicht einfach ein Stück von deinen Füßen abschneiden", meint die Ballettlehrerin knochentrocken zu Lara, als ihr beim Training wieder einmal die blutigen Füße zu schaffen machen. Der Satz, in dem eine doppelte Bedeutung mitschwingt, ist von dem belgischen Regisseur Lukas Dhont natürlich sehr bewusst platziert. Schließlich erzählt Girl von einem Mädchen, dessen Schmerz darin besteht, noch nicht Mädchen oder Frau genug zu sein. Dabei hat Lara, wenn der Film beginnt, schon einen weiten Weg zurückgelegt. Für den Vater (Arieh Worthalter) ist sie längst die Tochter, für den kleinen Bruder die Schwester. Mit der Hormonbehandlung hat sie gerade begonnen, und die geschlechtsangleichende Operation liegt in absehbarer Nähe. "Alles, was du dann sein wirst, bist du schon jetzt", versichert ihr der Therapeut. Doch Lara verlangt dieser Zwischenzustand einiges ab.

Kritik an Besetzung mit Mann

Dhont räumt seiner großgewachsenen, blonden und überaus eleganten Protagonistin, die Victor Polster mit einer undurchdringlichen inneren Anspannung eindrucksvoll verkörpert (die Besetzung mit einem männlichen Darsteller sorgte für einige Kritik), zunächst sämtliche Hindernisse aus dem Weg. Die soziale Akzeptanz muss sich Lara in ihrem liberalen Umfeld nicht erst erkämpfen. Von Ärzten und Therapeuten wird sie einfühlsam betreut. Der Vater ist mit der Familie gerade in eine größere Stadt gezogen, um seiner Tochter den Traum von einer Tanzkarriere zu ermöglichen. Er ist wie ein Sensor, der jede Stimmungsschwankung erspürt und für jedes Problem nach einer "gemeinsamen Lösung" sucht. Doch selbst in dieser warmen, soften Umgebung, die fließende Kamerabewegungen und warme Farbtöne (viel Gold- und Honiggelb) zu einem wattigen Teppich verdichten, ist Lara immer die "andere".

Die Kamera zoomt ganz nah ran: Links Victoria Polster als Lara
Foto: Thimfilm

Es hat etwas Bestechendes, den transformativen Prozess von Lara im Rahmen eines Tanzfilms zu erzählen. Der Körper ist so immer schon doppelt kodiert: ein Schauplatz, der Arbeit abverlangt und Leiden mit sich bringt. Auf der einen Seite gibt es also das harte Balletttraining in der Tanzakademie, dem Dhont ausgiebig Platz einräumt, auf der anderen Seite die Belastung, die der männliche Körper für Lara bedeutet. Ein Körper, den zu verstecken sie einigen Aufwand und Schmerz in Kauf nimmt – etwa wenn sie sich entgegen der ärztlichen Anweisung tapt.

Im Visier der Kamera

Ein Schauplatz ist Laras Körper aber auch im wörtlichen Sinn. Dhont hat ein geradezu obsessives Verhältnis zu seiner Hauptfigur. In nahezu jeder Einstellung wird sie von Frank van den Eedens Kamera ins Visier genommen, sie begleitet sie überallhin, sie tanzt mit ihr, sie folgt ihr bis auf die Toilette, wo sie von der körperlichen Anstrengung völlig erschöpft das brennende Klebeband zwischen den Beinen herausreißt.

Girl, in Cannes mit Preisen ausgezeichnet, ist ein radikales Porträt, da sich alles der Figur unterordnet. Diese extreme Exponiertheit birgt aber Ambivalenzen. Im Bild wird Lara beständig von ihrem Umfeld isoliert, was ihre Andersartigkeit erst recht manifestiert. Und auch wenn das Betrachten des Transgender-Körpers stets auf den tanzenden Körper umgeleitet wird, ist Dhonts Film zweifellos eine Einladung an die Schaulust.

Überzeugend ist dieses am "außen" haftende Konzept jedoch in anderer Hinsicht. Denn der Körper ist gleichzeitig die Schutzhülle eines inneren Dramas, das weder die beteiligten Personen noch die Zuschauer zu durchdringen vermögen. Die Umklammerung durch Blicke kann nicht verhindern, dass Lara langsam entgleitet. (Esther Buss, 2.1.2019)