Andris Nelsons dirigiert 2020 erstmals das Wiener Neujahrskonzert.


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Die "Band", wie Christian Thielemann die Philharmoniker im Vorfeld des Neujahrskonzerts bezeichnet hat, wird 2020 erstmals unter der Leitung von Andris Nelsons aufspielen. Der joviale Lette folgt beim Spitzenorchester also in einer weiteren Angelegenheit auf den gestrengen Deutschen: Nächstes Jahr wird Nelsons mit den Philharmonikern eine Gesamtaufnahme aller Beethoven-Symphonien vorlegen. Der Letzte, mit dem das Orchester eine solche Großunternehmung gewagt hat, war Christian Thielemann.

Mit dem Deutschen gab es für den Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra auch auf dem Grünen Hügel Berührungspunkte – vermutlich eher schmerzhafte. 2016 hatte Nelsons in Bayreuth die Proben zum Parsifal hingeschmissen und war sang- und klanglos abgereist. Die Presse mutmaßte, dass sich der dortige Musikdirektor Thielemann wohl allzu aktiv in die Probenarbeit seines Kollegen eingebracht habe.

Nimmt man den Berliner in seiner Leitungsarbeit oft als einen überkorrekten Kontrolleur wahr, dessen Gestaltungsdominanz – Motto: Sein Wille geschehe – oft die Grenze zur Pedanterie streift und von Orchesterseite auch als einengend empfunden werden kann, so lässt Nelsons die Zügel auch mal lockerer und frönt einem sinnlichen Musizieren.

Rotweinliebhaber

Dem Genuss ist der Ex-Mann der Sopranistin Kristine Opolais, phänotypisch zuletzt Richtung Falstaff tendierend, grundsätzlich nicht abgeneigt. Der Klang des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters erinnert den Rotweinliebhaber in seinem Reichtum und seiner Fruchtigkeit an einen guten Bordeaux.

An den Philharmonikern schätzt der 40-Jährige die weichen Streicher, den speziellen Klang der Holzbläser und das kammermusikalische Agieren. "Zum einen ist es bei ihnen wichtig, genau zu wissen, was man machen will, zum anderen muss man ihnen und ihrem Wissen, ihrer Erfahrung vertrauen", so Nelsons zum STANDARD. Er findet sich mit dem Befund wieder in trauter Harmonie mit seinem Kollegen Thielemann, der ebenfalls die Balance zwischen Kontrolle und Laisser-faire als Basis für ein gelungenes Neujahrskonzert beschrieb.

Zu diesem Jahreswechsel dirigierte Nelsons das Gewandhausorchester als dessen Kapellmeister, das Spitzenorchester aus Leipzig wird aber schon beim nächsten Silvester auf ihn verzichten müssen. Statt Beethovens Neunter also Champagner und viele Sträuße: für den sympathischen Strahlemann ein Genuss. (Stefan Ender, 1.1.2019)