Die französischen Kritiker feiern Michel Houellebecqs Roman "Serotonin" als seinen traurigsten, teilweise auch als seinen besten.


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Schreiben kann er teuflisch gut. Doch hat Michel Houellebecq auch seherische Qualitäten? 2001 schrieb er in "Plattform" über einen Terroranschlag auf ein fernöstliches Ferienparadies; ein Jahr später forderte ein Attentat in Bali mehr als 200 Menschenleben. 2015 erschien "Unterwerfung" über den Vormarsch des Islamisten in Frankreich – just am Tag vor dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo".

In seinem neuen Roman "Serotonin" beschreibt Houellebecq eine Verkehrsblockade gleich jener, die die Gelbwesten seit November inszenieren. Den Text des Buches hatte er schon im September abgeliefert und seither nicht mehr modifiziert. Damals sprach noch niemand von den Gilets jaunes.

"Serotonin" beschreibt ausführlich, wie die französische Landbevölkerung verelendet. "Von Zeit zu Zeit schließen sie eine Fabrik; sie verlegen eine Produktionseinheit, entlassen an die 70 Arbeiter." Jedes Jahr gingen Hunderte von Landwirten bankrott, erzählt die Hauptfigur Florent-Claude in dem Roman. Auf der Normandie-Autobahn A13 sperrt eine Gruppe verzweifelter Landwirte die Fahrtrichtung Paris. Bauern nehmen die CRS-Bereitschaftspolizei aufs Korn. Die gerät in Panik, schießt scharf. Zehn Protestierende und ein Polizist lassen ihr Leben.

Ein Echo der Gelbwesten?

Houellebecq liegt nicht weit neben der Wirklichkeit: Bei den Straßensperren der Gilets jaunes sind bisher zehn Menschen gestorben. Auch wenn daran nicht die CRS schuld waren, sondern meist Verkehrsunfälle, meint die Pariser Zeitung "Libération", Houellebecq habe die Ereignisse der letzten Woche "antizipiert, wenn nicht vorhergesagt". Die Radiostation Franceinfo nennt ihn einen Visionär, die Zeitschrift "Valeurs actuelles" spricht von einem "Houellebecq-Roman über das Frankreich der Gelbwesten". Auch "Le Figaro" sieht in dem 350-seitigen Werk ein "Echo der Gelbwesten".

Bloß: Kann das Echo dem Ereignis vorausgehen? Die Antwort ist bei Houellebecq weniger eindeutig, als es scheint. Die Krise der Gelbwesten ist zwar im Herbst ausgebrochen; ihre Wurzeln hat sie aber in einem langsamen Niedergang, genauer gesagt in der Verarmung der unteren Mittelschicht an Frankreichs Stadträndern und im weiten Land. Deshalb ist es auch wenig erheblich, dass die Gelbwesten tatsächlich aus Gewerbetreibenden und kleinen Angestellten bestehen, kaum aber aus Landwirten: Es ist die gleiche Kernbevölkerung Frankreichs, es sind die gleichen Verlierer der Globalisierung, die wütend sind auf die Pariser Eliten, die Medien und auf Emmanuel Macron.

Ausbildung zum Diplomagronomen

Für Houellebecqs "Riecher", wie ihn besagte Medien nennen, gibt es eine Erklärung: Bevor er zum Starautor avancierte, hatte er sich zum Diplomagronomen ausbilden lassen; danach lebte er in Irland wie auch Andalusien, wo er die Agrarmisere Westeuropas kennenlernte. In "Serotonin" macht er dafür die Marktliberalisierung im Allgemeinen und die europäische Milchpreisdirektiven im Speziellen verantwortlich. Und selbst diese brutale Flurbereinigung mit Hofkonkursen und Selbstmorden werde keine Abhilfe schaffen, meint der 60-Jährige: "Wir werden dann nur die endgültige Niederlage erleiden, weil wir im direkten Kontakt mit dem Weltmarkt stehen."

Hass auf Schwule

Deprimierende Worte, wie üblich bei Houellebecq. Sein Spiegelbild Florent-Claude – selber Agronom – schluckt Antidepressiva mit dem "Glückshormon" Serotonin. Seine Tristesse ist die der Normandie: Florent-Claude trinkt zu viel, er hasst Schwule und Holländer und trauert einer verblichenen Liebe nach. Nicht einmal mehr Sex hilft ihm gegen die Depression. Noch alarmierender: Houellebecq scheint die Lust am Provozieren zu vergehen.

Die französischen Kritiker feiern seinen neuesten Streich als seinen traurigsten, teilweise auch als seinen besten. "Le Monde" meint, das Enfant terrible finde endlich zur Literatur zurück. Dass Houellebecq seine eigene Depression nicht von der Misere der "France profonde" – des ländlichen Frankreichs – unterscheiden will oder kann, würde ihm niemand ankreiden: So war der Nabelschauer schon immer. Erstaunlicher, dass niemand die Widersprüche seiner Politexkurse in Romanform hervorhebt: So geißelt er die amerikanischen Agrarexporte, hält aber Donald Trump – der sich für diese Exporte starkmacht – für "einen der besten US-Präsidenten", wie er Mitte Dezember sagte. (Stefan Braendle 1.1.2019)