"Qiou" – das erfundene Zeichen findet man weder in Lexika, noch kann man es ins Handy eintippen.

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Karikaturist Fang Cheng spießt im Wortspiel mit Schriftzeichen seine Landsleute auf: Der Ausländer grüßt zum neuen Jahr mit korrektem traditionellem chinesischen Gruß, der Chinese versucht mit lautmalerischen Schriftzeichen "Haipa niuyi er" zu antworten, die so ähnlich klingen wie "Happy New Year". Doch sie bedeuten "Ich habe Angst, dass Du meine Ohren zwickst."

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Fang Cheng, ein Meister des chinesischen Humors, der 2018 im Alter von 100 Jahren starb, verschickte zu Lebzeiten als Neujahrsgruß eine Karikatur, bei der er mit der Sprache spielte. Auf dem Bild wünschen einander zwei Zeitgenossen ein frohes neues Jahr. Der Ausländer tut dies mit einem traditionellen Glückwunsch, sein chinesischer Freund nutzt Schriftzeichen, die "Haipa niuyi er" ausgesprochen sich so ähnlich wie "Happy New Year" anhören sollen. Doch sie tragen nicht nur einen Klang, sondern auch eine Bedeutung. In diesem Fall ergeben sie den sinnfreien Spruch: "Ich habe Angst, dass du meine Ohren zwickst."

Chinesische Künstler spielen gerne mit den aus uralten Piktogrammen entstandenen heutigen Zeichen. Manche nutzen sie auch zum Protest. Der preisgekrönte Gegenwartskünstler Xu Bing arbeitet seit Jahrzehnten mit der Schrift, von der niemand genau sagen kann, aus wie vielen Zehntausend Zeichen sie besteht.

In seiner bekannten 1988 als Kritik an der sozialen Kommunikation entstandenen Installation verarbeitete er 4.000 Zeichen. Darunter war kein einziges, das es jemals gegeben hatte, obwohl alle täuschend echt wirken. Drei Jahre arbeitete Xu an seiner Himmelsschrift (Tianshu) und kommentierte das einmal so: "Für einen solchen Witz würde ich auch noch mehr Jahre hergeben."

Kämpfen bis zur Weltmacht

Unbekannte Onliner haben weniger lang gebraucht, um jetzt ihr eigenes Schriftzeichen im Internet zu prägen. Zunächst hat aber ein erlauchtes Gremium chinesischer Sprach- und Kulturexperten als Wort des Jahres 2018 das Zeichen "fen" ausgewählt, das die Bedeutung "für etwas angestrengt kämpfen" trägt. Peking wünscht sich von seinem Volk solche Tugenden, um nach 40 Jahren Reformpolitik die Nation auf den Weg zur Weltmacht zu bringen.

Chinas inzwischen mehr als 800 Millionen Personen zählende Internetgemeinde hielt dagegen. Blogger wählten ein Alternativzeichen als Wort des Jahres, das sie "Qiou" nennen. Alles daran ist erfunden, vom Namen bis zur Schreibweise. "Qiou" setzt sich aus den Zeichen "qiong" ("arm") und "chou" ("hässlich") zusammen. Innen verbirgt sich noch das Zeichen "tu" ("Erde"), das in der Bedeutung für Depp vom Land steht.

Das Zeichen tauchte am 1. Dezember zum ersten Mal im Netz auf und sorgte in den Mikroblogs schnell für Furore. Es verkörpert für viele jungen Chinesen ein Underdog-Gefühl. In den Chaträumen wurde "Qiou" als Protestruf in einer von Boutiquen, Kosmetikkonsum und Schönheitsidealen überschwemmten Gesellschaft interpretiert, gegen die Angeberei mit Statussymbolen und Modemarken, gegen exorbitante städtische Mieten und den Leistungsdruck des Schulsystems.

"Ich bin Qiou"

Erfundene modische Onlinezeichen hatte es auch früher schon gegeben. Dieses nun, "Qiou", sei einfach genial, schrieb die Internetzeitschrift "Xiandai Kuaibao" ("Modern Express"), von der Schreibweise bis zur Bedeutung der Zeichen. "Ich bin Qiou" wurde zum geflügelten Wort. Es meint alles und jedes, vom (leeren) Kontostand in den Online-Pay-Systemen über das Frust-und-Blues-Gefühl unter vielen Jungen bis zur diffusen Systemkritik: "Ihr da oben – wir da unten."

Das Zeichen prägt sich bildlich leicht ein, jeder Chinese muss es entweder selbst schreiben oder von einer Vorlage kopieren. Denn sonst ist es eben nirgends gespeichert. Blogger meinten daher: "Das brauche ich nicht im Wörterbuch nachzuschlagen. Ich kann es sofort erkennen. 'Qiou, das bin doch ich.'" Deshalb müsse es auch auf der Sprachskala im dritten Ton gesprochen werden, so wie das Wort ("wo") für "ich".

Auch wenn "Qiou" keinen Eingang in die geschriebene chinesische Sprache findet: Im kollektiven Gedächtnis der Internetgesellschaft bleibt es als neues virtuelles Bonmot gespeichert. Denn eines ist zumindest im Netz klar: "Qiou sind wir doch alle – arm, hässlich und erdig." (Johnny Erling aus Peking, 4.1.2019)