Dass die Ziele einer sozialen und einer grünen Gesellschaft nicht immer vereinbar sind, zeigten zuletzt in Frankreich die Gelbwesten-Proteste.

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Kaldor: "Wegen der Reduktion von Staatsleistungen scheint vielen, dass sich Parteien nicht unterscheiden. Das ist sehr gefährlich!"

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Mary Kaldor gilt als die Mutter der "Neuen Kriege". Die britische Politikwissenschafterin beobachtete in den 1990er-Jahren im zerfallenden Jugoslawien, Bergkarabach und im Ostkongo eine Form von Konflikten, die sich klar von jenen des Kalten Krieges unterschieden: Statt nationaler Armeen kämpften staatliche und nichtstaatliche Akteure gegeneineinander und gegen die Regierung. Gesteuert wurden sie nicht von Generälen, sondern von Warlords, die nicht für den Staat, sondern auf eigene Rechnung arbeiteten – weil sie finanziell von der Kriegswirtschaft profitieren. In der Politikwissenschaft ist das Konzept verbreitet, Politiker werden damit vertraut gemacht. In der breiteren Diskussion kommt es trotzdem kaum vor.

STANDARD: Sie haben die Neuen Kriege in den 1990ern beobachtet, als sie noch nicht sehr weit verbreitet waren. Mittlerweile gibt es sie in Teilen Syriens, in der Ostukraine, in Georgien, in Libyen. Wünschen Sie sich, Sie hätten unrecht gehabt?

Kaldor: Das wäre großartig!

STANDARD: Hätte es – im Rückblick – anders kommen können?

Kaldor: Ich glaube schon. Ich bin ziemlich sicher, dass 9/11 der entscheidende Moment war. US-Präsident George W. Bush hat den Anschlag als grünes Licht dafür gesehen, Afghanistan mit militärischen Mitteln anzugreifen und dort territoriale Kontrolle anzustreben. Das hat alles viel schlimmer gemacht. Sowohl im Irak als auch in Afghanistan waren die Bedingungen, in denen Neue Kriege entstehen, vorhanden: schwache Staaten, soziale Not. Die Intervention hat die Staatsauflösung beschleunigt, die in beiden Staaten zu Neuen Kriegen führte.

STANDARD: Hätte man denn dem politischen Druck etwas entgegensetzen können?

Kaldor: Natürlich! Nur nicht Bush, denn der war von Neokonservativen umgeben, deren Blick auf die internationale Politik eben nicht von modernen Theorien über Konflikte und deren Bewältigung geprägt war. Anders war es bei der Teilnahme europäischer Staaten, vor allem Großbritanniens, am Irakkrieg. Premierminister Tony Blair war mit dieser Forschung vertraut, er hätte sich anders entscheiden können. Das hätte die EU ebenso wie die Uno vereint – und damit die internationale Gemeinschaft gestärkt.

STANDARD: Das ist nicht passiert. Was waren die Folgen?

Kaldor: Als Folge sind jetzt alle Formen internationaler Intervention diskreditiert und die Idee, dass man Neue Kriege durch internationale Kooperation eindämmen kann. Und das ist sehr schlecht, denn mittlerweile sind wir in einer viel schlimmeren Situation, in der auch Europa von Neuen Kriegen bedroht ist.

STANDARD: Meinen Sie Regionen, die bisher schon betroffen sind – etwa die Ukraine, Transnistrien?

Kaldor: Ich sehe die Gefahr, dass sie uns viel näher rücken. Es gibt auch in Westeuropa immer mehr Hassverbrechen, öffentliche Dienstleistungen werden gestrichen. Es gibt weniger Polizei, an die sich Leute wenden könnten, weniger Sozialleistungen. Diese Kombination aus Verbrechen, Xenophobie, gespaltener Gesellschaft, schwachen Staaten – es ist genau die Atmosphäre, in der die Neuen Kriege entstehen.

STANDARD: Sie sprechen über die Neuen Kriege als eine Art von Kultur. Sehen Sie Überschneidungen zu Populisten, die auch von Dauerkonfrontation leben und die auch auf Identitätspolitik setzen?

Kaldor: Absolut! Aber ich glaube, ein Teil der Neuen Kriege ist, dass sie mit den Konsequenzen des Neoliberalismus zusammenhängen: wachsende Ungleichheit, weniger Dienstleistungen, bei denen der Staat im Leben der Menschen präsent ist. Dass Staaten viele Dienste auslagern, erleichtert auch Korruption und macht zugleich viele zu Profiteuren dieser labilen Situation.

STANDARD: Kann man gegensteuern?

Kaldor: Ich glaube, es kann nur auf europäischer Ebene geändert werden. Deshalb halte ich die EU für so wichtig. Aber sie müsste sich anders verhalten. Wir sind reicher als je zuvor – trotzdem heißt es, dass öffentliche Dienstleistungen nicht mehr bezahlt werden können. Wieso? Zum Beispiel, weil die Reichen keine Steuern zahlen. Die EU müsste als Erstes die diversen Steuerparadiese schließen. Wegen der Reduktion von Staatsleistungen und wegen der Korruption scheint vielen, dass sich Parteien nicht unterscheiden. Das ist sehr gefährlich!

STANDARD: Sind Sie optimistisch?

Kaldor: Wir befinden uns gerade in einer sehr großen Übergangsphase. In den 1920ern gab es das zuletzt. Das Ende der britischen Dominanz, der Schwerindustrie. Damals war die Gesellschaft erst nach zwei Weltkriegen restrukturiert. Heute brauchen wir eine ganz neue Art der Regierungsführung, die es ermöglicht, mit Ressourcen nachhaltig umzugehen, die dem Klimawandel begegnet. Aber wir haben kein Modell dafür.

STANDARD: Was wird passieren?

Kaldor: Ich war optimistisch für Großbritannien, mit dem großen Engagement für Labour rund um Parteichef Jeremy Corbyn. Aber das hat sich als sehr enttäuschend herausgestellt. Und: Gibt es Partner in Europa? Kapitalismus und Sozialismus waren die perfekten Modelle für das US-Modell der Entwicklung – auch weil sie aufeinander aufbauten. Es war nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs einfach, ein Bild der Welt aufzubauen. Jetzt brauchen wir ein neues Narrativ einer globalen grünen, aber auch sozialen Welt.

STANDARD: Was aber auch sehr schwer zu kombinieren ist, wie die Proteste in Frankreich zeigen.

Kaldor: Es gibt einfach so viel Frustration. Das ähnelt übrigens den 1930ern: das totale Versagen der sozialdemokratischen Parteien. Sie haben sich erlaubt, den Neoliberalismus zu akzeptieren, und damit ihre Unterstützer völlig im Regen stehen gelassen. Das heißt, dass Leute wie die Gelbwesten kein natürliches Zuhause haben. Damit ist es für xenophobe Parteien sehr einfach, sie aufzufangen.

STANDARD: In der Politikwissenschaft sind die Neuen Kriege sehr bekannt – sonst kennt kaum einer die Idee. Wie erklären Sie das?

Kaldor: Ich arbeite gerade wieder an einem Projekt für das britische Ministerium für Internationale Entwicklung. Dort reden wir immer wieder über die Neuen Kriege. Es ist also nicht so, dass die Politiker das nicht hören. Nur gehen sie dann raus und geben völlig vereinfachte Erklärungen ab.

STANDARD: Sind die Erfolge der Assad-Regierung in Syrien nicht auch ein Argument, dass sich Akteure der Neuen Kriege mit den Methoden "alter Kriege", also massiver Gewalt, besiegen lassen?

Kaldor: Man könnte das schon sagen, obwohl es natürlich eine sehr destruktive Methode ist. Aber es stimmt nicht ganz: Das Gebiet, das Assad wiedereingenommen hat, ist oft eines der Neuen Kriege. Mit Gebieten, wo Milizen durch Orte ziehen und Übergriffe verüben, um Profit zu machen. Es ist offen, was nach dem Sieg passiert. (Manuel Escher, 4.1.2019)