Damit der Haussegen nicht schief hängt: Im Kanzleramt brauchten die Sternsinger für das Anbringen des Segenswunsches eine Leiter.

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Wer sich schon länger mit programmatischen und politischen Hintergrunddebatten beschäftigt, wird sich jüngst bei der Zeitungslektüre erstaunt die Augen gerieben haben: Wurde an der ÖVP von professionellen und semiprofessionellen Diagnostikern die längste Zeit bemängelt, sie sei zu altbacken und zu christlich-sozial, hat sich das Bild mittlerweile fundamental gewandelt. Die Volkspartei sei viel zu wenig oder gar nicht mehr christlich-sozial, lautet nun die – meist in unbarmherzigem Ton formulierte – Kritik selbsternannter Anwälte christlich-sozialen Handelns.

Man könnte nun knapp bilanzieren, dass das Christlich-Soziale von – externen wie internen – Kritikern der Volkspartei eben je nach Konjunktur gegen die Partei instrumentalisiert wird. Das ist wohl auch in einem Gutteil der Fälle so – und somit nicht wert, darauf hereinzufallen. Wer übrigens von der Volkspartei unter dem Schlagwort "christlich-sozial" allen Ernstes die Umsetzung der "reinen religiösen Lehre" erwartet, sollte sich um ein besseres Verständnis der historisch erkämpften Trennung von Politik und Religion bemühen – eine Errungenschaft unserer liberalen Demokratie, hinter die es kein Zurück geben kann.

Trotzdem lohnt es, die Debatte über das Christlich-Soziale in der Politik und in der Volkspartei ernsthaft zu führen. Denn sie ist auch eine Debatte über die Identität unserer modernen Gesellschaft – über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Solidarität. Sie ist auch eine Debatte über Mitte und Mäßigung – und damit über Qualitäten, die in unserer "Empörungsgesellschaft" und gleichzeitigen "Anspruchsdemokratie" immer wichtiger werden. Die Debatte über das Christlich-Soziale ist schließlich auch eine Debatte über den Wert von Volksparteien für die Demokratie. Über Parteien also, die durch ihre Programmatik, ihre Organisationsform und ihre Ausrichtung dazu in der Lage sind, unterschiedliche Positionen und Anliegen zu integrieren und vernünftige politische Lösungen zu finden – statt zu polarisieren und zu spalten.

Ideen im Wettbewerb

Die neue Volkspartei gibt mehr denn je der breiten politischen Mitte wieder eine Stimme. Als Partei der Mitte war, ist und bleibt die Volkspartei natürlich nicht nur christlich-sozial. Im aktuellen Grundsatzprogramm der Partei heißt es dazu sehr klar: "Wir verstehen uns als moderne christdemokratisch geprägte Volkspartei. Wir haben christlich-soziale, konservative und liberale Wurzeln. Aus ihrer ideengeschichtlichen Relevanz und Vielfalt leiten wir den Anspruch ab, erfolgreiche Politik für eine pluralistische Gesellschaft entwickeln und gestalten zu können."

Es geht daher nicht um konservativer oder weniger konservativ, um christlich-sozialer oder weniger christlich-sozial, um liberaler oder weniger liberal. Entscheidend ist, ob und wie die unterschiedlichen ideengeschichtlichen Zugänge der Volkspartei gemeinsam einen Beitrag leisten können, die Welt von heute besser zu verstehen und auf dieser Basis überzeugende Antworten der politischen Gestaltung zu geben.

Das Konzept einer christdemokratischen Volkspartei als Integrationspartei, in welcher die politischen Ideen des Konservativismus, des Liberalismus und der christlichen Soziallehre in einem internen produktiven Wettbewerb stehen, ist ein Erfolgskonzept. Der in Princeton lehrende Experte für politische Theorie und Ideengeschichte Jan-Werner Müller bilanziert im Buch "Das demokratische Zeitalter", dass die Christdemokratie die prägende politische Strömung in Westeuropa sei: "Müsste man eine einzige ideelle und parteipolitische Bewegung benennen, die jene politische Welt geschaffen hat, in der die Europäer heute immer noch leben, dann wäre dies die Christdemokratie." Müller hält sie für eine der "wichtigsten ideologischen Innovationen der Nachkriegszeit und eine der bedeutendsten des europäischen 20. Jahrhunderts überhaupt". Ihre Anführer seien zu politischen Neuerungen bereit gewesen, während ihre Intellektuellen diese Neuerungen in weitestgehend traditionelle Vokabulare zu kleiden vermochten. Genau das ist heute wichtiger denn je.

Als Volkspartei konservativ zu sein heißt heute vor allem, skeptisch gegenüber politischen Marktschreiern und Moralaposteln zu sein. Als Volkspartei liberal zu sein heißt heute vor allem, den Staatseinfluss zum Schutz des Einzelnen in Grenzen zu halten. Und als Volkspartei christlich-sozial zu sein heißt heute vor allem, das Sozialwesen und die Sozialpolitik klug weiterzuentwickeln.

Klare Spielregeln

Christlich-Soziale wissen, dass wir als Menschen aufeinander angewiesen sind – gegenseitig und auf Augenhöhe. Daher gibt es keine Freiheit ohne Verantwortung. Sie sind sich stets dessen bewusst, dass das Recht einer Person auf eine soziale Leistung die Pflicht für eine andere bedeutet, diese zu erbringen beziehungsweise zu finanzieren. Daher ist es zum Beispiel legitim, neue Mitglieder einer Solidargemeinschaft auch als solche zu behandeln. Für Christlich-Soziale ist ferner wichtig, dass im Sozial- und Wohlfahrtsstaat Rechte und Pflichten transparent sind. Das erfordert klare Spielregeln, die auch eingehalten werden. Zum Beispiel: Leistung muss sich lohnen. Oder: Hilfe soll "Hilfe zur Selbsthilfe" sein – und nicht Daueralimentierung, die abhängig macht. Christlich-Soziale verwechseln zudem mehr Gerechtigkeit nicht mit mehr Gleichheit und staatlicher Abhängigkeit. Deshalb hat übrigens der Arbeitnehmerbund der Volkspartei schon bei seiner Gründung das Ziel formuliert, dass aus den Österreichern ein "Volk von Eigentümern" werden soll. Und dass Mitarbeiter an Unternehmen beteiligt sein sollen. Das ist nicht neoliberal, sondern sozial. Christlich-soziales Denken und Handeln spielt schließlich Solidarität nicht gegen wirtschaftliche Freiheit aus – im Gegenteil: Wirtschaftliche Freiheit und Leistungskraft sind die unverzichtbaren Voraussetzungen für institutionell verbürgte Solidarität.

Das alles sind Grundprinzipien des Christlich-Sozialen. Sie haben sich unbestritten eine seriöse öffentliche Diskussion und mehr politische Konjunktur verdient – jenseits einer mitunter etwas scheinheiligen Paralleldebatte, in der das Christliche-Soziale bloß instrumentalisiert wird. Ob Letzteres christlich ist, mag jeder selbst beurteilen – Religion ist schließlich in Österreich Privatsache. (Harald Mahrer, 6.1.2019)