Zirngast in der Nacht seiner überraschenden Entlassung zu Weihnachten 2018. Wie es genau zu seiner Freilassung kam, weiß er selbst nicht.

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Der österreichische Journalist und Student Max Zirngast wurde am 11. September in seiner Wohnung in Ankara, wo er lebt und studiert, festgenommen und überraschend am 24. Dezember freigelassen. Ihm wird Nähe zu einer Terrorgruppierung vorgeworfen, Beweise hierfür fehlen aber. Die Dinge, die gegen ihn in der 123-seitigen Anklageschrift aufgelistet wurden, sind zum größten Teil auch nach türkischem Recht überhaupt nicht strafrechtlich relevant, theoretisch drohen ihm aber bis zu zehn Jahre Haft. Zirngast ist nun nicht mehr in Haft, darf die Türkei aber bis zu seinem Prozess im April nicht verlassen.

STANDARD: Sie saßen dreieinhalb Monate erst in Polizeigewahrsam, dann in Haft. Seit elf Tagen sind Sie frei. Wie haben Sie es geschafft, relativ zuversichtlich und kämpferisch zu bleiben?

Zirngast: Sind es schon elf Tage? Mir geht es jedenfalls gut. Für türkische Verhältnisse war ich gar nicht so lang im Gefängnis. Und wenn man weiß, dass man nichts getan hat, dass sie keinen einzigen Beweis gegen einen haben, hilft das natürlich. Ich wusste, dass ich wegen meiner Arbeit, wegen meiner journalistischen Texte im Gefängnis war, wegen meiner Haltung, zu der ich auch stehe. Aber natürlich ist das nicht angenehm. Die Briefe, die ich erhalten habe, waren eine große Hilfe, nicht nur psychologisch, jede kleine Solidarität ist wichtig. Dabei sind gar nicht alle zu mir durchgekommen. Aber ich wusste auch selbst, dass ich nie strafrechtlich relevante Texte geschrieben habe, ich habe auch nie jemanden persönlich beleidigt, das liegt mir fern, ich liefere strukturelle Analysen.

STANDARD: Sie haben während der Haft öffentlich kommuniziert, über eine Solidaritätsplattform, aber auch durch Ihre in der "Washington Post" veröffentlichten Briefe. War der öffentliche Druck für Ihre Freilassung verantwortlich, oder liefen da andere Deals im Hintergrund?

Zirngast: Das kann ich nicht wissen, und das werden mir die zuständigen Behörden auch in Österreich nicht sagen, das verstehe ich auch. Aber sobald die Anklageschrift akzeptiert wird und ein Termin für die Verhandlung feststeht und kein Grund für eine weitere Haft bis zum Prozess besteht, ist es auch normal, freigelassen zu werden.

STANDARD: Ein Staatsanwalt hat zwei Tage nach Ihrer Entlassung beim 26. Gericht für Schwerverbrechen Einspruch gegen Ihre Freilassung eingebracht. Fürchten Sie, dass Sie noch vor Ihrem Prozess im April wieder inhaftiert werden könnten, wenn Sie die türkische Regierung etwa in Interviews als faschistoid bezeichnen?

Zirngast: So habe ich das nicht gesagt, ich sprach von Faschisisierungstendenz im Staat und in der Gesellschaft und von einem Verrohungsprozess in der Gesellschaft, der ja noch nicht abgeschlossen ist. In Europa glaubt man, in der Türkei ist seit der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste alles vorbei. Es gibt aber auch eine demokratische Opposition, Gegentendenzen. Diese Stimmen darf man in Europa nicht überhören, wenn man sie unterstützen will. Es ist ja nicht so, dass man gar nichts mehr kann. Okay, ich war gerade im Gefängnis, aber es gibt hier noch immer Parteien im Parlament und Medien, die ein autoritäres System kritisieren. Kritische Medien, die etwa hohe Entschädigungszahlungen aufgebrummt bekommen, kann man übrigens auch von Europa aus unterstützen.

STANDARD: Sieht man sich die Punkte Ihrer Anklageschrift an, staunt man über die dünne Suppe. Man hatte Sie zwei Monate beschattet und fünf Monate abgehört und listet Dinge auf wie den Umstand, dass Sie einen Beutel oder Rucksack in einem Café mithatten, man beschlagnahmte Bücher wie ein Comic des "Kommunistischen Manifestes" von Engels, und Marx und man wirft Ihnen vor, Mitglied einer angeblichen Terrorgruppe zu sein, die selbst von türkischen Gerichten nicht als terroristisch eingestuft wurde ...

Zirngast: Ich habe tatsächlich keine Ahnung über diese Organisation, weil es sie gar nicht zu geben scheint. Aber es ist schwer, zu beweisen, dass man nicht Mitglied bei einer nichtexistenten Gruppe ist. Sie heißt TKPK, und es gab sie wohl von 1990 bis 1995, aber selbst da war sie nie als Terrororganisation gelistet. Ich soll jedenfalls der "Ankara-Verantwortliche" dieser Gruppe sein, obwohl nicht einmal Beweise für die Existenz der TKPK angeführt werden. Aber alles wird mit ihr in Verbindung gebracht – selbst kostenlose Philosophiekurse, die ich angeboten habe. Man warf mir vor, dass ich mit diesen Kursen die Denkstruktur der Menschen im Sinne der Terrororganisation beeinflussen wollte. Wenn Sie das zu Ende denken, würde jede intellektuelle Betätigung auf Terrorismus hinauslaufen.

"Es ist schwer zu beweisen, dass man nicht Mitglied bei einer nichtexistenten Gruppe ist", sagt Max Zirngast hier im Bild während des Skype-Interviews mit dem STANDARD am Freitag.
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STANDARD: Und was hat es mit den Büchern, Zeitschriften und Broschüren auf sich, die man bei Ihrer Verhaftung beschlagnahmt hat?

Zirngast: Das sind alles völlig legale Bücher, die man ganz normal in der Türkei erwerben kann. Ich wurde befragt, wo ich diese Bücher herhatte. Ich habe den Beamten gesagt: "Bitte kommen Sie mit mir in die Buchhandlung, ich zeige sie Ihnen." Aber selbst in den Akten steht ohnehin, dass alles, was man mir vorhält, legal ist.

STANDARD: Bergleute sprechen von Schlagwetter, wenn sich durch das Gemisch von Methangas und Luft ein Unglück ankündigt. Wann konnten Sie als Zeitzeuge der Entwicklung der Türkei zu einem autoritären Regime erstmals politisches Schlagwetter – auch bezüglich Ihrer persönlichen Sicherheit – wahrnehmen?

Zirngast: Als ich im August 2015 kam, ging es bergab. Das war ja schon nach der Wahl vom 7. Juni. Die Hochphase der alternativen gesellschaftlichen Bewegungen hatte ich von außerhalb der Türkei beobachtet. Aber ich denke, der Terroranschlag auf die Demo mit Gewerkschaften und einer breiten demokratischen Opposition am 10. Oktober desselben Jahres (es gab mehr als 100 Tote, Anm.) war ein Wendepunkt. Ich war dort und hab mich auch journalistisch damit befasst. Das hatte schon eine neue Qualität, mitten in der Hauptstadt. Offiziell war der "Islamische Staat" verantwortlich, und der Prozess geht ja noch weiter, aber ich glaube nicht, dass das Interesse der Behörden bei der Aufklärung eines Mordes in jedem Fall gleich groß ist. Und kurz danach war es natürlich der Putschversuch. Ich war auf der Straße, als die Flugzeuge über uns drübergeflogen sind.

STANDARD: Sie sind ein deklarierter Linker. Fühlen Sie sich als Österreicher und politischer Gefangener im Ausland gut vertreten von Ihrem Heimatland?

Zirngast: Ja, der Konsul war mich dreimal in der Haft besuchen, viel mehr wäre für ihn auch gar nicht möglich gewesen, da man ja jedes Mal um Erlaubnis anfragen muss.

STANDARD: Wenn Sie freigesprochen werden, wollen Sie trotzdem weiterhin in der Türkei leben und arbeiten?

Zirngast: Ich weiß es schlichtweg noch nicht. Ich habe derzeit ein Ausreiseverbot, und hätte ich das nicht, hätte ich ziemlich sicher einen Deportationsbescheid. Es liegt also gar nicht in meiner Hand und es ist für die Behörden auch irrelevant, ob ich es möchte oder nicht.

STANDARD: Und wenn Sie verurteilt werden sollten?

Zirngast: Dann würde ich alle Instanzen durchlaufen, auch die europäischen Rechtsinstanzen, selbst wenn ich nicht mehr in der Türkei bin. Denn es ist wichtig, auch für alle Fälle, die meinem ähnlich sind, hier einen Präzedenzfall zu schaffen. (Colette M. Schmidt, 4.1.2019)