Kann Spuren von Religion enthalten: Ahmad Milad Karimi analysiert zeitgenössische TV-Serien mit Blick auf religiöse Inhalte. Er wurde fündig – zum Beispiel in "Homeland" und "Game of Thrones".

Foto: Peter Grewer

Die Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" – organisiert von Philosoph Konrad Paul Liessmann in Kooperation mit dem STANDARD – stellte im Wintersemester 2018/19 die Frage "Wie viel Gott braucht die Schule? Über das Verhältnis von Religion und Bildung". Nach einer rechtsphilosophischen und einer katholischen Antwort folgt am Mittwoch, 9. Jänner (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D, Universitätsstraße 7) eine islamische. Ahmad Milad Karimi, afghanisch-deutscher Islamwissenschafter von der Uni Münster, wird im Abschlussvortrag "Über den Ort des Religiösen. Eine islamische Perspektive" referieren.

STANDARD: Sie haben eine recht harte Diagnose über die aktuelle Verfasstheit des Islam formuliert: "Die Bedeutung des Islam für die globale Welt ist heute mehr denn je wirksam, aber vor allem in ihrer pervertierten Gestalt. Diese monströse Figuration einer Religion, die verwüstet und vernichtet, kann nicht verschwiegen werden. Der Islam befindet sich in religiöser und kultureller Hinsicht in einer Krise." Wie kommt der Islam da heraus?

Karimi: In der Tat befinden wir uns in einer kulturellen und geistigen Krise. Wir können nicht so tun, als wäre alles gut. Wir können auch nicht in die Opferrolle fallen, dass wir keinen Ausweg sehen. Der Weg heraus ist für mich die Rückbesinnung auf die geistige islamische Tradition. Ohne Herkunft keine Zukunft. So zeigt sich, was das Wesentliche des Islam ist. Die Krise ist immer auch eine Chance. Was will der Islam eigentlich, und welchen Mehrwert hat er für eine Gesellschaft?

STANDARD: Was ist das Wesentliche des Islam, was sein Mehrwert?

Karimi: Aus meiner Sicht will der Islam den Menschen zum Guten erziehen, für das Gute begeistern, für das Gerechte, für Frieden, für mehr Menschlichkeit und Barmherzigkeit in der Welt. Der Islam will auch einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten, nicht als Konkurrenz zu den Verfassungen europäischer Natur, sondern als Unterstützung für die darin verankerten Überzeugungen. Rückbesinnung ist deshalb wichtig, weil der Islam historisch einen großen Beitrag zur europäischen Wissenschaftskultur geleistet hat. Wenn wir heute in Europa, vor allem an deutschsprachigen Universitäten, islamische Theologie lehren dürfen, heißt das nicht, dass wir nur einen weichgespülten Islam, einen Wohlfühlislam lehren, sondern dass wir uns frei mit dem Geist dieser Religion befassen.

STANDARD: Die türkische Regierung hat die "kontroverse" Evolutionstheorie aus dem Schullehrplan gestrichen, der bis vor kurzem amtierende Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich reihte die Evolutionstheorie unter "falsche Entwicklungen" ein. Wann ist der Islam von seiner ursprünglichen Idee, von der Sie reden, abgedriftet? Man hat heute das Gefühl, realpolitisch geht es vielerorts um ganz andere Dinge wie religiöse Überformung von Gesellschaften oder politische Transformation dieser Religion.

Karimi: Die türkische Regierung ist nicht der Islam. Ich kann diese Außenwahrnehmung aber sehr gut verstehen, jedoch sollten wir differenzieren. Eine evolutionsfeindliche Position ist insbesondere auch in den USA zu sehen, und die kommt bestimmt nicht vom Islam. Wenn wir über die politische Überformung des Islam reden, ist das Problem, innerislamisch betrachtet, dass wir keine adäquate politische Theorie entwickelt haben. Ich finde schon, dass die Religion zu Politik ermutigen, aber nicht selbst zu Politik mutieren soll. Islam ist nicht gleich Islamismus. Islam ist kein tätiges Subjekt, sondern immer das, was die Menschen daraus machen. Wenn wir heute über die Türkei reden, reden wir über eine geistesgeschichtliche, soziale, ökonomische, politische Frage. Da spielt die Religion auch eine Rolle, aber nicht die Hauptrolle. Wir sind nicht die Salafisten, die Wahhabiten in Saudi-Arabien, die konservativen Mullahs im Iran, der IS oder die Taliban et cetera. Das sind keine tiefreligiösen Menschen, die aus ihrer Religion heraus Politik machen, sondern das sind mehrheitlich Ideologen, die Ideologie religiös begründen. Das ist ein bedeutender Unterschied.

STANDARD: Oft heißt es in der Debatte über den Islam, dass er eben noch nicht die Aufklärung durchlaufen hat – die übrigens, das sei ausdrücklich gesagt, auch der katholischen Kirche sehr mühsam abgerungen werden musste. Was sagen Sie zum Aufklärungsauftrag an den Islam? Wäre dann alles gut?

Karimi: Mit dieser Position bin ich überhaupt nicht einverstanden. Ich bin der Auffassung, dass nicht der Islam oder das Christentum oder das Judentum aufgeklärt werden, sondern immer die Menschen, in unserem Fall die Muslime. Also die, die ihre Religion leben. Die Aufklärung in Europa war eine Bewegung, die aus der Opposition zum Christentum entstand. Wenn man meint, Aufklärung ist die Lösung aller Probleme, dann muss man erklären, wie es dazu kam, dass in einem aufgeklärten Land wie Deutschland Millionen von Juden vergast wurden. Von sehr aufgeklärten Menschen. Die Aufklärung ist nicht die Lösung aller Probleme. Sie wird dann selbst zu einer Ideologie, die, wie Foucault sagte, Menschen zur Aufklärung erpressen will. Also entweder bist du aufgeklärt oder ein schlechter Mensch. Die Aufklärung hat Ideale, aber sie ist kein Allheilmittel. Es geht darum, dass wir selbst und frei denken sollen. Im Islam gibt es kein Lehramt. Wir sind alle selbst gefragt, unsere Religion in Verantwortung, Wissen und Demut auszulegen. Wenn diese islamischen Tugenden wieder kultiviert sind, sind wir auf einem guten Weg.

STANDARD: Sie sprechen über den Ort des Religiösen. Wo ist er? In der Privatsphäre, also "Religion ist Privatsache" plus religionsfreie Räume etwa in Schulen, oder woanders?

Karimi: Religion ist keine Privatsache, aber sie ist eine persönliche Sache. Und als Person sind wir immer Teil der Öffentlichkeit. Der Ort der Religion ist der Mensch. Wenn man religionsfreie Räume schafft, heißt das, wir wollen menschenfreie Räume schaffen. Es gibt das Recht, religiös zu sein. Es gibt aber kein Recht, dass man mit Religion andere diskriminiert oder selbst als Wahrheit auftritt. Spätestens seit dem 11. September 2001 sollten wir gelernt haben, dass wir unsere Welt ohne Religionsverständnis nicht mehr verstehen können. Dazu gehört religiöse Bildung. Daher ist es wichtig, dass Religion auch in Schulen und überall präsent ist. Die meisten unserer Probleme resultieren aus religiösem Analphabetismus.

STANDARD: Apropos Recht, religiös sein zu sein: Die österreichische Regierung hat für Kindergärten ein Kopftuchverbot beschlossen, für die Volksschulen möchte sie es gern. Was halten Sie davon?

Karimi: Grundsätzlich darf kein Mensch, ob jung oder alt, fremdbestimmt sein in seiner religiösen Ausübung. Keine Frau darf zum Kopftuch gezwungen werden.

STANDARD: Ist das Kopftuch eine religiöse Pflicht oder nicht?

Karimi: Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen, das macht den Islam aus. Es gibt gute Gründe zu sagen, dass Frauen eine Kopfbedeckung tragen sollten, und es gibt heute sehr gute Gründe, die das für nicht notwendig erachten.

STANDARD: Wie ist Ihre Meinung?

Karimi: Meine Frau trägt kein Kopftuch, wenn Sie das wissen wollen, meine Mutter auch nicht. Aber wenn meine Tochter eines tragen will, werde ich ihr das nicht verbieten. Diese begründete Offenheit zeichnet meine Religion aus. Ich finde es sehr schwierig, festzustellen, wann Menschen religiös mündig sind. Wir sagen, ab 18 Jahren sind wir erwachsen, aber es gibt Menschen, die mit 22 nicht so weit sind, und andere sind schon mit 14 oder 16 sehr viel weiter. Ich halte es für fraglich, ob wir von oben herab an Menschen herantreten können, die vielleicht diese religiöse Empfindsamkeit bereits haben und mit einem Kopftuch nicht so etwas verbinden wie: Ich bin ein minderbemitteltes Wesen, weil ich eine Frau bin, und deswegen muss ich mich bedecken, weil die Männer ihre Gelüste nicht unter Kontrolle haben, sondern die damit eine bestimmte Haltung zum Ausdruck bringen, nämlich die: Mein Leben vollzieht sich im Angesicht Gottes, hier ist ein Kopftuch, es gibt mir Größe, gibt mir Rückgrat, füllt mein Leben mit Geist. Das ist eine tiefe, transzendente Verbindung.

STANDARD: Aber kann das auch ein Mädchen?

Karimi: Ein kleines Mädchen kann natürlich das Wort Transzendenz nicht aussprechen, aber ich kann nicht sagen, alle Zehnjährigen sind nicht in der Lage, diese Empfindsamkeit zu haben. Das wäre unglaublich pauschal. Ich verstehe, dass man Menschen vor Übergriffen, privat oder öffentlich, schützen und deswegen das Kopftuch verbieten will, aber ich halte es für nicht unproblematisch, hier eine einfache Lösung für ein komplexes Problem vorzuschlagen.

STANDARD: In Ihren religionsphilosophischen Überlegungen spielen TV-Serien eine besondere Rolle. So fanden Sie etwa Spuren von Religion in "Homeland", einer US-Serie, die das Thema Terrorismus behandelt, aber auch in "Game of Thrones". Was war die religiöse Erkenntnis oder Essenz? Welche Funktion erfüllt Religion da?

Karimi: Diese TV-Serien gehören heute zum Inventar des Lebens vieler Menschen. Ich sehe sie als Artikulationsplattform des Lebens. Sie sind höchst komplex und liefern keine einfachen Antworten, die uns am Ende sagen: Die Message ist Kopftuchverbot. Die Botschaften der Serien sind immer von Ambiguität getragen. Wir stehen da und wissen nicht, was richtig und was falsch ist, denn der Mensch ist immer eine Frage. Diese schöne Botschaft der Serien, die darin besteht, dass wir auf viele Fragen keine Antworten haben, ist dieselbe Geste, die ich aus dem Islam lerne. Der Islam gibt mir keine Antwort, er ermutigt mich, Fragen zu formulieren. Das verbindet diese komplexen Serien mit Religion. (Lisa Nimmervoll, 7.1.2019)

Sie interessieren sich für österreichische Politik? Melden Sie sich für den wöchentlichen kostenlosen Newsletter an: