Hindu-Traditionalisten verbrennen ein Bild des Ministerpräsidenten von Kerala aus Protest, weil Frauen einen Tempel betreten dürfen.

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Der indische Bundesstaat Kerala ist für sonnige Strände, Wellness- und Ayurvedakuren bekannt. Doch derzeit ähnelt die Region im Südwesten Indiens eher einem Laboratorium für gesellschaftlichen Wandel in Zeiten des Wahlkampfs.

Ende vergangener Woche starb bei gewalttätigen Ausschreitungen um einen Tempel ein Mann und 15 weitere wurden verletzt. Der Grund: Drei Frauen hatten sich zum ersten Mal Einlass verschafft, was jahrzehntelang für das weibliche Geschlecht im gebärfähigen Alter tabu war. Einen Tag zuvor hatten sich rund fünf Millionen Frauen in einer von der kommunistischen Landesregierung organisierten 620 Kilometer langen "Frauenwand" durch Kerala zusammengefunden, um gegen geschlechtsbasierte Diskriminierung zu protestieren.

"Gegen dunkle Kräfte"

Brinda Karat, Mitglied im Politbüro der Kommunistischen Partei Indiens CPI(M), die zu dem Protest in die Landeshauptstadt Thiruvanathapuram gereist war, sagte: "Die Frauen in Kerala haben Geschichte geschrieben, indem sie eine Wand des menschlichen Widerstands gegen die Kräfte der Dunkelheit errichtet haben." Karat kritisierte die in Delhi regierende Hindu-nationalistische Bharatiya Janata Partei (BJP) für ihre "toxische Antifrauenpolitik".

Die BJP bezeichnete die Frauenwand als hingegen als "totalen Misserfolg" und "Verschwendung von Regierungsgeldern und -ressourcen".

BJP unter Druck

Dabei kommt der Konflikt, der Ende September durch ein Urteil des Obersten Gerichts in Delhi ausgelöst wurde, allen politischen Parteien wie gerufen. Zwischen 26. März und 7. April finden Parlamentswahlen statt, und die Saga um Frauenrechte, einen Gott und den Rechtsstaat erlaubt es Politikern aller Couleur, sich bei ihren Wählern ausgiebig zu profilieren.

Die BJP unter Premierminister Narendra Modi hat Ende des Jahres einige entscheidende Landeswahlen verloren und ist zum ersten Mal seit Amtsantritt 2014 wirklich unter Druck. Für sie ist der Tempelstreit eine gute Gelegenheit, konservative Hindus hinter sich zu vereinen, während die oppositionelle Kongresspartei und die in Kerala regierenden Kommunisten die Gelegenheit nutzen, sich als fortschrittliche Alternative und Verteidiger des Rechtsstaats zu profilieren.

Abgelehnte Klage

Dabei ist der Konflikt um den dem Gott Ayyappa geweihten Sabarimala-Tempel, der auf einem bewaldeten Hügel in dem Periyar-Tiger-Reservat in den Westghats liegt, nicht neu. Bereits 1991 hatte das Hohe Gericht des Bundesstaates eine Klage abgelehnt, die Frauen Einlass verschaffen sollte.

Das Gericht argumentierte, es handele sich um eine geheiligte Tradition. Erst seitdem wurde darauf geachtet, dass jüngere Frauen dem Tempel fernbleiben. Zuvor hatte es Ausnahmen an Feiertagen gegeben, obwohl bereits Dokumente aus der britischen Kolonialzeit berichten, dass Gott Ayyappa im Zölibat lebe und daher keinen Frauenbesuch wünsche.

Doch das fand das Oberste Gericht nicht stichhaltig und verwarf das Urteil des Kerala High Court. Die bestehende Tradition und Praxis sei de facto mit einem Verbot gleichzusetzen, das Mitgliedern unterer Kasten den Zugang zu Tempeln verwehre.

"Rituelle Unreinheit"

Das hinduistische Konzept einer "rituellen Unreinheit" sogenannter Unberührbarer war in Indien vor der Unabhängigkeit der Grund, weshalb diesen der Zugang zu vielen Tempeln verwehrt blieb. Die Verfassung von 1947 hat das beendet, doch die Durchsetzung des Gleichheitsgrundsatzes ist mitunter schwierig.

Hindu-Traditionalisten argumentieren auch im Falle des Sabarimala-Tempels mit der angeblichen "rituellen Unreinheit" der Menstruation. Nachdem sich die drei Frauen Einlass in den Tempel verschafften, vollzogen Priester Reinigungsrituale. Dennoch halten auch Frauen daran fest, nicht zuletzt weil Aktivistinnen oft aus linken Parteien und Gruppen kommen und im Ruf stehen, nicht an Gott zu glauben.

Soziales Ungleichgewicht

Der Konflikt ist aber nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne, sondern auch Ausdruck gesellschaftlichen Wandels. "Man kann nicht leugnen, dass Leute überall religiöser geworden sind, auch wegen des Niedergangs des Marxismus", sagt die Journalistin PS Nirmala aus Kerala. Der Bundesstaat wird traditionell von der kommunistischen Partei regiert und entsendet die größte Zahl von Wanderarbeitern in die Golfstaaten. Viele von ihnen sind Christen und Muslime, was das soziale Gleichgewicht geändert habe. Hindus hätten Angst, abgehängt zu werden; das habe zu einer "Verhärtung" der Religion geführt.

Die Regierung in Thiruvanathapuram sagt, dass sie es nicht zulassen könne, wenn "politisch motivierte Gewalt ein Gerichtsurteil sabotiert", so Ministerpräsident Pinarayi Vijayan. Doch auch für seine Partei ist die Auseinandersetzung eine Gelegenheit, sich als die frauenfreundliche Kraft des Fortschritts zu präsentieren.

Recht auf den Berg

"Es verheißt nichts Gutes für die indische Republik, wenn gegenüber einem Gerichtsurteil in böser Absicht und mit dem zynischen Kalkül auf weitere politische Konflikte die Grammatik religiöser Anarchie von der Leine gelassen wird", warnt Pratap Bhanu Mehta, Rektor der Ashoka-Universität in Delhi.

Es ist allerdings kaum damit zu rechnen, dass sich der Konflikt um den Sabarimala-Temple bald entschärft. Am Wochenende eröffneten Frauenrechtlerinnen in Kerala einen neuen Kriegsschauplatz: Sie fordern Zugang zum zweithöchsten Berg des Staates, auf dem der Heilige Agasthya Muni verehrt wird. Dort verbietet die lokale Stammesbevölkerung Frauen den Zutritt. Vor den Wahlen im Frühjahr wird daher kaum Ruhe in Kerala eintreten. (Britta Petersen aus Neu-Delhi, 7.1.2019)