Man kann Othmar Karas nicht nachsagen, er sei ein medienscheuer Politiker. Wann immer es darum geht, für das gemeinsame Europa in die Bresche zu springen oder eine EU-skeptische Ausfälligkeit des Koalitionspartners FPÖ zu kritisieren, ist er zur Stelle. Umso erstaunlicher wirkt es, dass der Delegationsleiter der fünf EU-Abgeordneten der ÖVP zum Auftakt eines EU-Wahljahres wie vom Erdboden verschluckt erscheint.

Dabei hatte Karas schon im vergangenen Mai bei einer Tagung der Europäischen Volkspartei (EVP) angekündigt: "Zu Weihnachten" werde er entscheiden, ob er für seine Partei erneut antreten werde – oder aufhöre; und ob er auch dann zur Verfügung stünde, sollte sein Parteichef und Kanzler Sebastian Kurz nicht ihn als Nummer eins auf der Wahlliste aufstellen wollen, sondern eine junge weibliche Spitzenkandidatin. Als "Urgestein" und "Europagewissen" der Partei mit EU-Mandat seit 1999 würde er das nie akzeptieren, glauben viele Beobachter. Seit der Bildung der türkis-blauen Regierung im Dezember 2017 geistert diese Frage durch die Innenpolitik. Kurz und Karas, der kühl-pragmatische proeuropäische Kanzler, der mit EU-Skeptikern regiere, und der orthodoxe EU-Prediger – schwierig.

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat diese Sicht am Mittwoch in der ZiB 2 genährt, als er sagte, ein EU-Kommissar Karas wäre "etwas, was man sich schwer vorstellen kann". Blöd nur: EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber, der nächster EU-Kommissionschef werden will und das mitentscheiden würde, ist ein guter Freund von Kurz. Und von Karas. Weber ist oft in Wien.

Ist Karas also "out"? Lässt sich Kurz in Sachen Europa von der FPÖ vor sich hertreiben? Wer für die Volkspartei antritt oder nicht, geht weit über eine reine Personalentscheidung hinaus. Es wird zum Gradmesser, welchen weiteren Europakurs der ÖVP-Kanzler einschlägt. Entscheidend bei EU-Wahlen ist auch, dass die Wahlbeteiligung gering ist; dass (tendenziell EU-freundlichere) Frauen eher zur Wahl gehen als Männer.

FPÖ, SPÖ und die Grünen haben längst entschieden, dass sie mit Harald Vilimsky, Andreas Schieder und Werner Kogler als Spitzenkandidaten antreten. Bei den Neos erhob die junge Nationalratsabgeordnete Claudia Gamon Anspruch darauf. Die ÖVP hatte im Herbst erklärt, sie wolle erst das Ende des EU-Vorsitzes abwarten, dann werde Kurz sein Team bekanntgeben. Nun, Weihnachten, EU-Vorsitz, Dreikönig sind vorbei, aber bei den Christdemokraten wird nur bestätigt, man wolle das Vorzugsstimmenmodell wie bei den Nationalratswahlen 2017 anwenden. Jeder Kandidat muss einen Vorzugsstimmenwahlkampf führen. Jene, die die meisten Vorzugsstimmen haben, bekommen auch die Mandate.

Das ist rechtlich nicht unumstritten, aber es ist ein interessanter Hinweis darauf, wie die ÖVP in die Wahlschlacht ziehen will: mit Othmar Karas. Dieser kann der "Vorzugsstimmenkaiser" schlechthin genannt werden. Bei den EU-Wahlen 2009 sammelte er im ÖVP-internen Wettstreit mit Ernst Strasser 112.954 Vorzugsstimmen ein: einsamer Rekord.

Die Frage, ob er als Erster oder Zweiter auf der Wahlliste antreten wird, erscheint dabei eher nebensächlich. Da Karas als "Paradeeuropäer" für Wähler weit über die klassische ÖVP-Klientel hinaus wählbar ist, bescherte sein Antreten der ÖVP eine Win-win-Situation. Kurz hat Karas daher bereits signalisiert, dass er ihn will. Was noch fehlt, ist die Zusage des Umworbenen. (Thomas Mayer, 6.1.2019)