"Die Freiheit führt das Volk": Der Street-Art-Künstler Pboy setzt die Gelbwesten-Bewegung dieser Tage mit der Französischen Revolution gleich.

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Wie würde eine Citizens' Assembly den Brexit verhandeln? Wäre es überhaupt dazu gekommen, wenn Bürgerinnen und Bürger besser in politische Entscheidungsprozesse eingebunden wären?

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Walter Osztovics: Konstruktive Politik wird eine Erfolgsformel der Zukunft.

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Wir müssen dringend über das Verhältnis zwischen Regierenden und Bürgern reden. Irgendetwas ist da in Schieflage geraten. Emmanuel Macron in Frankreich zum Beispiel versteht vermutlich immer noch nicht, warum er erst für seine Reformerfolge – höheres Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosigkeit – gelobt wurde, bis dann plötzlich aus dem Nichts die Gilets jaunes auftauchten, die ihm vor allem eines vorwerfen: dass er abgehoben agiert, nicht mit den Menschen redet, nicht auf sie hört.

In Großbritannien hat man 2016 sehr wohl das Volk gefragt und erhielt eine Antwort, die das Land in eine ausweglose Sackgasse geführt hat. Rund um den Brexit geht derzeit gar nichts mehr, es gibt keinen einzigen konkreten Lösungsvorschlag, der Aussicht auf eine Mehrheit hätte.

In Österreich grübeln wir gerade, ob wir mit dem Wechsel von der unproduktiven Streiterei zur smarten Umsetzerpolitik den richtigen Griff getan haben. Im alten rot-schwarzen System der Sozialpartner und Landesfürsten war "eingebunden werden" meist ein anderes Wort für "Reformen blockieren". Seit 2017 haben wir eine Regierung, die sehr stolz darauf ist, ihr Programm zügig zu verwirklichen, die dabei aber möglichst keine Zwischenrufe hören will. Ideen von außerhalb gelten eher als Störung denn als Input, im schlimmsten Fall – wenn sie zum Beispiel von der Caritas kommen – werden sie als feindseliger Angriff gewertet.

Zwischen Streit und Drüberfahren: Konstruktive Politik

Diese Beispiele illustrieren das geläufige Dilemma: Reformen müssen flott durchgezogen werden, langes Diskutieren würde sie verwässern; umgekehrt können aber Reformen daran scheitern, dass die Betroffenen nicht mitgenommen wurden (wie bei Macron); und schließlich trauen wir dem Volk ohnehin nicht zu, dass es komplexe Fragen selber lösen kann (siehe Brexit).

Gibt es wirklich keinen Mittelweg zwischen Streiten und Drüberfahren? Doch, den gibt es! Konstruktive Politik wird eine Erfolgsformel der Zukunft – so lautet einer der Befunde der aktuellen "Arena-Analyse 2019", die auch genau diesen Titel trägt, nämlich "Konstruktive Politik". Diese Studie, die das Beratungsunternehmen Kovar & Partners jedes Jahr in Kooperation mit dem STANDARD und der Zeit durchführt, versucht Entwicklungen aufzuspüren, die in unmittelbarer Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden.

Warum nicht auch politische Ideen bewerten?

Heuer wundern sich die Mitglieder des Expertenpanels, warum Verfahren wie die Citizens' Assembly in Irland – die 2016 den jahrelangen Kulturkampf um die Abtreibung friedlich auflöste – immer noch als innovative Ausnahmen gesehen werden. In England fordert eine Gruppe von Intellektuellen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, dass genau so ein Bürgerforum, zusammengesetzt aus Nichtpolitikern, den Ausweg aus dem Brexit-Dilemma finden sollte, den die Regierung, das Parlament und die Parteien nicht hinkriegen.

Die Angehörigen der Zivilgesellschaft – sowohl die NGOs als auch die nichtorganisierten Bürgerinnen und Bürger – werden sich allein schon deshalb stärker in die Politik einmischen, weil ihnen die Digitalisierung die Möglichkeit dazu gibt. Dank Internets können sich Spontanbewegungen wie die Gelbwesten bilden, im Netz können aber auch ganz leicht Gesetzesentwürfe begutachtet und diskutiert werden. Als Kinder des Onlinezeitalters haben wir uns daran gewöhnt, interaktiv zu sein, wir bewerten Shops, Hotels und Fluglinien, warum also nicht auch politische Ideen?

Politik im Web – nicht neu, aber umstritten

Die Politik der Zukunft wird sich in hohem Maße ins Web verlagern – das ist keine sonderlich gewagte Prognose, allerdings ist diese Entwicklung durchaus umstritten. Die öffentliche Meinung hat hier innerhalb weniger Jahre eine geradezu halsbrecherische Kehrtwendung gemacht. Erinnert sich noch jemand an den optimistischen Hype, der vor allem durch den Arabischen Frühling 2011 ausgelöst wurde? Seht her, hieß es damals, das World Wide Web ist eine große Demokratiemaschine! Es ermöglicht den Zugang zu Informationen, die keine Zensurbehörde kontrollieren kann, es ermöglicht die Vernetzung von Basisbewegungen, bringt Emanzipation und Freiheit.

Dann kam der große Rückschlag. Denn leider sind die weltweiten Netze auch ein Ort der Überwachung durch Algorithmen, der Fake-News, der Hasspostings und der Echokammern, der selbstherrlichen Tweets von Donald Trump. Die Vernetzung ermöglicht Datenmissbrauch à la Cambridge Analytica und Wahlmanipulationen durch russische Trolle, sie ist eine Gefahr für die Demokratie.

In Wahrheit stimmt natürlich beides, auch beim Einsatz von digitalen Instrumenten zur Politikgestaltung kommt es darauf an, was man daraus macht. Denn so wie eine Schar von zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern oberflächlich keppelt, solange sie auf Facebook postet, aber plötzlich spannende Ideen entwickelt, wenn sie in das richtige Umfeld versetzt wird – die Bürgerräte Vorarlbergs oder die irische Citizens' Assembly haben es bewiesen -, so lassen sich auch im Internet Diskussionsräume schaffen, in denen sachliche Konsultationen auf Basis durchdachter Stellungnahme möglich sind.

Die gute Nachricht

Das Internet bietet also sehr wohl ungeheure Chancen für neue Formen der Partizipation, das ist die gute Nachricht am Ende einer Analyse, die befindet, dass Österreich, genau wie das übrige Europa, solche neuen Formen auch dringend braucht. Nicht als Ersatz für die bestehenden Instrumente, sondern als Ergänzung, um drei widersprüchliche Anforderungen erfüllen zu können: Interessenausgleich, ohne Konflikte zuzudecken. Partizipation, ohne dass die Mitwirkung der vielen in Twitter-Geschnatter oder den Austausch von Stammtischemotionen abgleitet. Und schließlich die langfristige Perspektive, die rechtzeitige Beschäftigung mit Problemen, die erst nach der übernächsten Wahl virulent werden. Kurz gesagt: eben konstruktive Politik. (Walter Osztovics, 9.1.2019)