Solche Kreaturen kann man nur albträumen. Schrille Aufblasclowns, die hinter einem in Heu gebetteten, schlafenden Häufchen Elend lauern. Das Vatermonster im Schafspelz, das mit seiner Keramikschnauze sein Opfer besabbert. Doppelköpfige Wölfe mit Flügeln aus Autotüren. Ihnen stehen grelle Lichtgestalten gegenüber. Lippenwesen unter Yoda-Kapuzen, die ihre Avantgarde-Gewänder auf unzähligen Füßchen spazieren tragen. Gezähnte Vaginas, die in Jeans ihre wilden Hirsche reiten. Oder fellige Skateboardgirls.

Die Mühlbauer-Kampagne 2018/19 mit Kris Lemsalu
MÜHLBAUER HAT MAKERS SINCE 1903

Kris Lemsalus surreale Wesen sind Komposite. Zusammengesetzt sind sie aus ihren buntglasierten Porzellan- und Keramikobjekten und gesammeltem Material wie Alltagsgegenstände, Textilien, Fell, Leder und Wolle. Egal woher diese Exoten stammen, egal wie durchgeknallt, gruselig oder obszön sie auch sind, sie faszinieren. Seltsam vertraut erscheinen sie, ganz so, als würden sie in unentdeckten Ecken unserer Seelen schlummern oder gemachten Erfahrungen Gestalt verleihen, Geschichten von Liebe und Sex, Gewalt, Angst, Leben und Tod erzählen.

Nicht immer kann man Lemsalus Narrative enträtseln, aber ihre grotesken Hauptdarsteller bleiben im Gedächtnis. Es ist sicher auch der Zwittrigkeit ihrer zwischen Komik und Schwermut angesiedelten Skulpturen zu verdanken, dass die Künstlerin in New York und London gerade als eine der zentralen neuen Bildhauerinnen gehandelt wird.

Ausschnitt aus "Going Going" mit Kyp Malone beim "Performa 17"-Festival in New York.
Kris Lemsalu

Die Objekte sind aber auch Vehikel für Performances der 33-jährigen Estin, die unter anderem in Wien bei Monica Bonvicini studiert hat und heuer ihr Land bei der Biennale Venedig vertritt. Beim New Yorker Festival Performa 17 lenkte Kris Lemsalu etwa als Fährfrau eine schicksalhafte Bettstatt, die sich mit zehn Armen rudernd fortzubewegen schien. Geschminkt wie eine betrunkene Geisha und mit Ohren aus Flamingoblumen erinnerte sie dabei an den düsteren Greis Charon, der die Toten für einen Obolus ans andere Ufer übersetzt. Den passenden sphärisch-experimentellen Höllensoundtrack zur Reise steuerte Ehemann Kyp Malone (TV on the Radio) bei.

Das Bett als Boot, als Mittler zwischen Schlaf und Tod, taucht bei Lemsalu immer wieder auf. Manchmal ist der Ort des Schlummers aber auch Zuflucht und Versteck. 2015 zog sich Lemsalu auf der Kunstmesse Frieze New York in einen auf einem Wasserbett ruhenden schillernden Schildkrötenpanzer aus Porzellan zurück. Dort verharrte sie an fünf Tagen jeweils acht Stunden regungslos.

Hat das Tor in den Himmel überhaupt ein Schlüsselloch? Ja, scheint Kris Lemsalus Installation "Keys Open Doors" zu sagen.
Foto: Maximilian Anelli-Monti, courtesy of the artist und Temnikova & Kasela Galery

Die Schlüsselmeisterinnen

In Venedig soll es weniger düster zugehen. Funtain soll eine mit Musik und Tanz bespielte reale Märchenwelt werden. Die beiden Gestalten, die Lemsalu im Kabinett der Wiener Secession installiert hat, würden sich als Torwächter und Schlüsselmeister für dieses Wunderreich gut eignen, schließlich sind die vielarmigen, gewichtigen Schlüsselfeen mit den zarten keramischen Vulva-Gesichtern schon jetzt vor einem verheißungsvollen Himmel postiert. Wunderbar untermalt wird das von der trotzig-kämpferischen Icona-Pop-Parole: "I don't care. I love it." Leider ist in Wien bei den charmanten Empfangsdamen schon wieder Schluss. Das nächste Mal begehren wir Eintritt ins komplette Lemsalu-Land! (Anne Katrin Feßler, 12.1.2019)

Kris Lemsalu