"Konzentriere dich auf die Druckverteilung", mahnt die Frauenstimme über die kabellosen Ohrstöpsel. Gemeint ist der Kantendruck auf den Außenski. "Gut gemacht", lobt sie nur wenige Schwünge später, weil diese ihrer Meinung nach besser gelungen sind. Doch als die Piste steiler wird, erkennt sie schon den nächsten Fehler: "Halte die Unterschenkel parallel, sie sollen kein A formen!"

Die Stimme ist merklich keine menschliche, sondern die von Carv, dem ersten virtuellen Skilehrer. Dahinter steckt eine komplexe Anwendung künstlicher Intelligenz, die Skifahrern helfen soll, ihre Fahrtechnik zu verbessern. Zwei junge Briten haben Carv 2015 als Kickstarterprojekt in London gegründet. Seit September vergangenen Jahres unterhalten sie auch ein Büro in Innsbruck. Dort hatte DER STANDARD die Gelegenheit, den Retortenskilehrer zusammen mit einem seiner Erfinder am Patscherkofel zu testen.

Foto: Carv

"Wir wollen damit keinesfalls menschliche Skilehrer ersetzen. Mit Carv kann man nicht Ski fahren erlernen, aber sich weiterentwickeln", erklärt Jamie Grant, einer der beiden Firmengründer. Der 33-jährige Oxford-Absolvent hat Physik und Finanzstatistik studiert. "Irgendwann wurde mir das zu langweilig. Statt Bilanzen wollte ich lieber Skidaten analysieren", sagt er. Denn seine große Leidenschaft gilt dem Wintersport.

Die Idee zu Carv basierte letztlich auf Grants eigenen Bedürfnissen als Skifahrer. Die Grundkenntnisse waren bei ihm vorhanden, allerdings verbesserte sich seine Technik danach nur noch langsam, weil er selten zum Skifahren kam. Der Wunsch, ein besserer Skifahrer zu werden, gepaart mit seiner Affinität für Technik standen so am Anfang des Carv-Projektes. Heute beschäftigen Grant und sein Partner Pruthvikar Reddy insgesamt zehn Angestellten.

Das Herzstück von Carv ist die dünne blauumrandete Skischuheinlage, die mit insgesamt 48 Druck- sowie neun Bewegungssensoren ausgestattet ist. Die Einlage wird zwischen dem weichen Innenschuh und der harten Skischuhschale mittels doppelseitigen Klebestreifens angebracht.

Ein Kabel verbindet sie mit dem Akkupack, das hinten am Skischuh befestigt wird. Es versorgt die Sohle einerseits mit Energie und sendet darüber hinaus die gesammelten Daten via Bluetooth an das Handy des Carv-Nutzers. Noch funktioniert die Anwendung nur auf IOS-Geräten, bald soll die Androidversion folgen.

Die intelligente Schuheinlage sammelt abertausende Messdaten.
Foto: Carv

Der intelligente Skischuh

Die Sohle sammelt rund 100.000 Datenpunkte pro Schwung des Skifahrers und sendet diese Daten 25-mal pro Sekunde an das Handy. Dort werden sie in Echtzeit verarbeitet und die daraus abgeleiteten Ratschläge für die Fahrtechnik gehen über die Kopfhörer direkt an den Nutzer.

Für die ersten Testfahrten stellt Grant die Anwendung auf Feedbackmodus. Das heißt, Carv sammelt während der Abfahrt alle Daten und sobald der Skifahrer in der Gondel sitzt, erhält er die Analyse seiner Abfahrt. "Das System erkennt, dass man länger nicht fährt und sich wieder nach oben bewegt", erklärt der Entwickler.

"Du hast soeben 4,5 Kilometer auf der Familienabfahrt am Patscherkofel zurückgelegt. Gratuliere, dein Ski-IQ liegt bei 120", startet die Dame im Ohr ihre ermunternde Analyse. Die Könnerstufe wird in Form des Ski-IQ ausgedrückt. 120 ist ein solider Mittelwert. Gute Skilehrer liegen meist bei über 130, Anfänger bei 100. Offenbar haperte es an der Kurventechnik. "Vermeide allzu plötzlichen Druck auf den äußeren Fuß", rät die Stimme. Sie gibt während der Liftfahrt noch ein paar Tipps, wie man die Schwünge fließender setzen soll.

In Echtzeit sind die Daten via Bluetooth am Smartphone abrufbar.
Foto: Carv

Wer es ganz genau wissen will, kann das Handy aus der Tasche nehmen und sich alle Daten auf dem Display ansehen. Die Auswahl ist enorm und reicht von der Anzahl der Schwünge über die Außentemperatur bis hin zur Höchstgeschwindigkeit.

All diese Daten werden, sobald das Handy Internetzugang hat, auf dem Server der Firma Carv gespeichert. Dort stehen sie einerseits dem User jederzeit zur Verfügung, andererseits nutzen die Entwickler sie, um die Anwendung stetig zu verbessern.

Derzeit sind mehr als 5.000 Carv-Units weltweit im Umlauf. Der Preis der Anwendung inklusive Hardware, also Sohle und Akkupack, beträgt 229 britische Pfund. "Wir wollten so günstig wie möglich bleiben, um den Preis nicht zum Kaufkriterium zu machen", erklärt Grant. Mittlerweile laufen bereits Verhandlungen mit namhaften Skischuhherstellern, die Interesse an der Anwendung bekundet haben.

Wenig Fortgeschrittene können zwischen Feedbackfunktion und sofortiger Kritik der Performance auf dem Ski, wie eingangs beschrieben, wählen. Für versiertere Skifahrer stehen in der neuen Version, die dieses Wochenende auf den Markt kommt, eine ganze Fülle von zusätzlichen Messdaten, wie etwa Neigungswinkel der Ski oder Kurvenradius zur Verfügung.

Auch zahlreiche Skilehrer und selbst einige Profisportler, wie der britische Slalomfahrer Dave Ryding, würden Carv nutzen, um ihre Technik zu verbessern, sagt Grant. Mit ihnen kooperiert das Unternehmen, um die eigenen Algorithmen weiterzuentwickeln. Unter den Carv-Testfahrern ist auch der mehrfache Slalom-Weltcupsieger Michael Tritscher aus Schladming.

Neben der Technik liegt der Fokus auf der Bedienerfreundlichkeit. Um nicht ständig die Handschuhe an- und ausziehen zu müssen, funktioniert Carv, sobald einmal gestartet, automatisch und intuitiv. Dazu arbeitet das Team um Grant mit namhaften Computerspieleentwicklern zusammen. "Die Didaktik ist neben der Technik sicher die größte Herausforderung."

Nach vier Abfahrten, bei denen 1.567 Schwünge durch den Schnee gezogen wurden, ist tatsächlich ein Lerneffekt bemerkbar. "Dein Ski-IQ hat sich auf 127 verbessert", lobt die Stimme im Ohr. Balance, Kanteneinsatz und Kurvenradius seien in Ordnung, während beim Druck auf den Außenski noch Luft nach oben sei.

Echte Skilehrer müssen dennoch nicht fürchten, durch Carv ersetzt zu werden. Zwar wurde die App darauf programmiert, mitunter markige Sprüche wie "Go get it tiger!" zu reißen, doch spätestens am Einkehrschwung scheitert der Skilehrer 2.0. (Steffen Arora, 22.1.2019)