Als Donald Trump fast auf den Tag genau vor zwei Jahren ins Weiße Haus in Washington einzog, nahmen sich die Spitzen der Europäischen Union umgehend vor, sicherheitspolitisch enger zusammenzurücken: Da die Nato-Partnerschaft für den unberechenbaren US-Präsidenten nicht mehr länger Priorität hatte (America first!), forderte allen voran EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mehr europäische Selbstverantwortung ein – und zwar bis hin zur Umsetzung der jahrzehntealten Vision einer europäischen Armee.

In Österreich hält man gern das immerwährende Dogma hoch.
Foto: Christian Fischer

Doch trotz anhaltender außenpolitischer Kapriolen Trumps und seines russischen Gegenspielers Wladimir Putin ist es um die damals so dringlich erschienene gemeinsame Truppe von Soldaten aus allen Mitgliedsländern unter einem Kommando wieder recht still geworden – vor allem in Österreich, wo die Staatsspitzen lieber das immerwährende Dogma der Neutralität hochhalten.

Vision versus Illusion

Doch unlängst bezeichnete auch der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte, die Aufrufe Deutschlands und Frankreichs zur Gründung einer EU-Armee als überstürzt – und überhaupt sei es "eine Illusion", dass die Union die Sicherheit des Kontinents jemals ohne die Nato gewährleisten könne, erklärte er.

DER STANDARD gibt einen Überblick über die gewichtigsten Argumente, die für, aber auch gegen eine EU-Armee sprechen – und erklärt, auf welche militärische Zusammenarbeit sich 23 EU-Staaten, inklusive Österreich, bisher sehr wohl einigen konnten.

FÜR

Hierzulande drucksen die Neos bei diesem Sicherheitskomplex am wenigsten herum – unter allen Parteien gelten sie als die glühendsten Befürworter einer EU-Armee. Zwar befürwortet auch die Kanzlerpartei ÖVP Überlegungen in diese Richtung, allerdings wesentlich dezenter: "Eine zentrale Zukunftsfrage stellt daher die Weiterentwicklung hin zu einer Verteidigungsunion mit dem langfristigen Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee dar", heißt es im aktuellen Parteiprogramm von 2015.

Das wohl populärste Argument der pinken Unterstützer lautet jedenfalls: Durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik würden alle Mitgliedstaaten Geld sparen – vor allem bei Rüstungsdeals, weil dann bei der Anschaffung von Waffen ab sofort das Prinzip Pooling and Sharing gelte.

Das Sparpotenzial liegt laut einer McKinsey-Studie aus dem Jahr 2017 bei 30 Milliarden Euro – verglichen mit den Verteidigungsausgaben von insgesamt 250 Milliarden.

Vor allem würden in einer Verteidigungsunion alle Waffensysteme vereinheitlicht: In den Armeen der einzelnen EU-Staaten gibt es rund 180 Waffensysteme, in den USA je nach Zählung nicht viel mehr als 30. Die USA haben einen "Main Battle Tank", den "M1 Abrams", die europäischen Armeen 17 verschiedene.

Und das setzt sich bei den Luftflotten fort. À la longue könnte man selbst bei der Luftraumüberwachung auf Synergien setzen, glaubt Douglas Hoyos, Verteidigungssprecher der Neos. In letzter Konsequenz weitergedacht hieße das vielleicht sogar, dass die Republik eines Tages auf Abfangjäger verzichten könnte – was auch aufwendige U-Ausschüsse rund um deren Anschaffung ein für alle Mal obsolet machen würde.

Doch Scherz beiseite: Das schlagkräftigste Argument der Verfechter einer EU-Armee besagt, dass sich die Union auch angesichts des anhaltenden russisch-ukrainischen Konflikts sicherheitspolitisch von alten Abhängigkeiten lösen müsse – weil auf die USA als alte Nato-Übermacht mit Donald Trump an der Spitze kein Verlass mehr sei. Eine eigenständige Truppe mit eigener Führung würde das Auftreten der Union auf der Weltbühne stärken, so die Überlegung – und im militärischen Krisenfall könnte man einem in Not geratenen Mitglied wohl rascher zu Hilfe eilen.

Dazu kämen längst auch grenzüberschreitende Herausforderungen wie der Terrorismus und die Cyberkriminalität, denen man unter anderem mit einem gemeinsamen Freiwilligenheer besser entgegentreten könnte, meint Neos-Abgeordneter Hoyos. Freilich müssten für all das viele EU-Staaten, mehrheitlich Mitglieder der Nato, ihre Loyalitäten abseits des Nordatlantikpakts "schrittweise" neu ausrichten – und das kann noch Jahrzehnte dauern.

Aber in vielen Ländern gibt es eine Bereitschaft dazu: Wegen der leichteren Vermarktung spricht man in Deutschland anstatt von einer Europa-Armee jetzt von einer "Armee der Europäer".

WIDER

Gleich zum Jahresauftakt stellte Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ) klar, dass die Republik bei einer gemeinsamen EU-Armee nicht mitmachen werde: "Eine Uniform, eine Führung – das wird es nicht spielen", erklärte er mit Verweis auf Österreichs Neutralität.

Damit befindet sich der Minister in bester Gesellschaft – ähnlich halten es auch der Oberbefehlshaber des Bundesheeres, Bundespräsident Alexander Van der Bellen, und die oppositionelle SPÖ.

Das von Militärs primär ins Treffen geführte Argument gegen eine EU-Armee ist eines der militärischen Kultur: Über Jahrhunderte hat sich in den einzelnen Staaten ein jeweils eigenständiges Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Befehlsempfängern, zu militärischem Drill und Rechtsstaatlichkeit entwickelt. Das bemerkt man bis heute in gemeinsamen Einsätzen und auch in der "Brigade franco-allemande", die vor 30 Jahren von Deutschland und Frankreich aufgestellt wurde: "Mit dieser 'gemischten Brigade' gibt es auch 'gemischte Erfahrungen'", sagt ein Offizier süffisant lächelnd.

Gewichtiger dürften rechtliche Vorbehalte sein – wobei die österreichische Neutralität nur ein Teilaspekt ist. Denn im Vertrag von Lissabon ist bisher nur gemeinschaftlich abgestimmtes Krisenmanagement vorgesehen. Für eine gemeinsame Verteidigung bedarf es nach Artikel 43 eines einstimmigen Beschlusses im Europäischen Rat. Und da wäre der österreichische Neutralitätsvorbehalt nicht das einzige zu erwartende Veto. Schließlich sind viele andere Staaten ähnlich darauf bedacht, eine eigenständige Außenpolitik – zu der auch ein eigenes Heer gehört – zu verfolgen.

Apropos eigenes Militär: Selbst wenn es eine gemeinsame europäische Armee geben sollte, würden die einzelnen Staaten wohl territoriale Streitkräfte unterhalten müssen – ähnlich der amerikanischen National Guard. Diese ist eine Miliztruppe, die den Gouverneuren der Bundesstaaten untersteht, aber gleichzeitig auch Armeereserve ist.

Derartige Bataillone sind schon aus rein praktischen Erwägungen stets regional rekrutiert und nicht zwischen mehreren Staaten aufgeteilt. Das wäre auch in der EU nicht anders – womit Österreich auch im unwahrscheinlichen Fall der Gründung einer EU-Armee sein Bundesheer behalten (und finanzieren) müsste.

Zu einer höheren Finanzierung seiner Verteidigung hat sich Österreich ohnehin schon 2017 im Pesco-Abkommen (für Permanent Structured Cooperation) verpflichtet. Der Pakt sieht eine militärische Kooperation und die gemeinsam finanzierte Entwicklung von 40 militärischen Fähigkeiten vor, die es in Europa bisher nicht oder zu wenig gibt. Österreich darf sich in diesem Rahmen allerdings nur an Projekten beteiligen, "die der militärischen Landesverteidigung in Österreich dienen". Konkret hat die Republik die Führungsrolle bei der Entwicklung eines ABC-Sensorik-Systems übernommen. (Conrad Seidl, Nina Weißensteiner, 14.1.2019)