In London pochen Demonstranten auf den Brexit-Vertrag.

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Am Tag vor der Abstimmung über den Vertragsentwurf zum EU-Austritt des Vereinigten Königreiches schwirrten in Brüssel und in den EU-Hauptstädten die Gerüchte so wild wie nie zuvor umher, wie es nach dem Votum wohl weitergehen werde.

Wenn gut hundert Abgeordnete der eigenen Partei gegen den Brexit-Vertrag stimmen und Theresa May eine peinlich schwere Niederlage zufügen, werde der Premierministerin wohl nichts anderes übrigbleiben als der Rücktritt, glauben die einen. Nein, May werde sicher weiterkämpfen, meinen die anderen im konservativen Lager. Sie werde in eine zweite Abstimmung gehen. Bevor sie zurücktrete, würde sie eher noch in Neuwahlen flüchten und damit das Volk quasi direkt entscheiden lassen, welche Art von EU-Austritt es wolle: geordnet mit ihr oder im Chaos.

Wieder andere in London hoffen auf eine Fristverlängerung des Austrittstermins 29. März. Die EU werde schon einknicken, dann werde man weitersehen, neu verhandeln. Das glaubt der Oppositionsführer von Labour, Jeremy Corbyn. Er hat sich als hartnäckiger linker EU-Gegner und Brexit-Befürworter erwiesen – gegen die breite Mehrheit seiner eigenen Partei, die ihn beim Parteitag stärkte.

Corbyn will den EU-Austritt, weil die europäischen Regeln sein Land an üppigen staatlichen Programmen hinderten. Die Hardliner bei den Tories sind aus genau den umgekehrten Gründen gegen Mays Deal mit Brüssel: Sie wollen zurück zum Thatcherliberalismus, möglichst wenige Fesseln im Wettbewerb mit dem Rest der Welt.

Politische Unfähigkeit

Chaos pur, wenn man bedenkt, dass das Brexit-Referendum vor mehr als zweieinhalb Jahren stattgefunden hat – ein Ausdruck der politischen Unfähigkeit. Auf die Briten ist kein Verlass. Es herrscht eine Polarisierung, Verhärtung und Lähmung, wie wir sie auch beim traditionellen Verbündeten der Briten, den USA, sehen, seit Donald Trump mit Populismus die Szene aufmischt.

Das vor allem sollte man sich vor Augen führen beim Gedanken daran, dass man mit dem Land nach dem EU-Austritt irgendwann wieder normale Beziehungen führen will. Es wird jedenfalls schwierig, so oder so. Mehr Klarheit wäre gefragt. In dieses negative Bild passen die hilflosen Versuche aus den EU-Institutionen und Partnerstaaten, mit Appellen an die Vernunft etwas Ruhe und Ordnung in die Sache zu bringen. 100 EU-Abgeordnete aus fast allen Fraktionen in Straßburg bitten die Briten in einem Brief inständig, sich den Brexit doch noch einmal zu überlegen. Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratskollege Donald Tusk schrieben einen Brief an London, in dem sie erklären, dass man über alles reden könne, nur nicht über Neuverhandlungen beim (rechtlich verbindlichen) Austrittsvertrag.

Das ist nett, führte aber schon seit Monaten nicht weiter. Die EU-Appelle bedeuten: Wir sind selbst unschlüssig, können nichts tun als abzuwarten, ob und wie sich das politische Chaos in Großbritannien auflöst – nicht gerade ein Zeichen von Stärke. Vermutlich war es ein Fehler der EU-27, zu glauben, dass der Brexit sich irgendwie durch ein zweites Referendum verhindern ließe, wenn man sich dafür bis zuletzt offen zeigt. Nun droht das britische Chaos in die EU-Wahlen hinüberzuschwappen, was die Union bei der Neuwahl des EU-Parlaments wie auch bei der Zusammenstellung der neuen EU-Kommission im Sommer weiter zu lähmen droht. (Thomas Mayer, 14.1.2019)