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Lieber gar keinen als einen ungeordneten Austritt – das war auch am Montag Theresa Mays Devise vor Arbeitern in der Brexit-Hochburg Stoke-on-Trent.

Foto: Ben Birchall/PA via AP

Vergangene Woche rief Theresa May bei Tim Roache an. Man habe sich auf zivilisierte Weise unterhalten über die schlimmen Folgen des möglichen Chaos-Brexits, "No Deal" genannt, berichtete der Vorsitzende der Industriegewerkschaft GMB. Zwar sei man unterschiedlicher Meinung, aber: "Ich bin froh, dass die Premierministerin sich nach fast drei Jahren erstmals gemeldet hat."

Einzel- und Kleingruppengespräche mit Hinterbänklern, Telefonate mit Gewerkschaftern, Besuch einer Porzellanfabrik – hektisch hat die britische Regierungschefin zuletzt alle möglichen Anstrengungen unternommen, um das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit zu retten. Am Dienstag soll das Parlament abstimmen über das Paket aus Austrittsvertrag und politischer Erklärung, das sie im November aus Brüssel mitgebracht hat. Und trotz der erneuten Beteuerung guten Willens, mit der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk May noch den Rücken zu stärken versuchten, gilt als ausgemacht: Der Deal wird abgelehnt. Als offen erscheint nur die Höhe der Niederlage.

Überall ist von "Mays Deal" die Rede – das ist einerseits natürlich Unsinn. Andererseits kommt es der Wahrheit doch sehr nahe, wovon die bittere Bemerkung des Gewerkschaftsführers Roache Zeugnis ablegt.

Wortwahl der EU-Feinde

May hat es zu keinem Zeitpunkt seit ihrem Amtsantritt im Juli 2016, wenige Wochen nach dem knappen Brexit-Votum beim Referendum (52 zu 48 Prozent), geschafft, die fundamentalste Änderung britischer Außen- und Innenpolitik auf ein breites Fundament zu stellen. Statt auf die Oppositionsparteien und andere gesellschaftliche Gruppen zuzugehen, machte sie sich den albernen Slogan der EU-Feinde zu eigen: "Wir wollen die Kontrolle zurückerlangen." Sie redete vom "globalen Britannien", denunzierte gleichzeitig international aufgestellte Briten als "Bürger von nirgendwo". Um ihre überwiegend antieuropäische Partei zu befriedigen, setzte sie auf den harten Brexit. Dass dies den mühsam ausbalancierten Frieden in Nordirland gefährdet, wen kümmerte das schon?

Ausdrücklich schloss sie "im nationalen Interesse" Neuwahlen monatelang aus, um sie dann im Frühjahr 2017 "im nationalen Interesse" doch auszurufen. Doch statt einen Erdrutschsieg zu feiern, büßte May die knappe konservative Regierungsmehrheit ein. In Panik machte sie sich zur Gefangenen der erzkonservativen nordirischen Unionistenpartei DUP. All dies hängt ihr wie ein Klotz am Bein. Vieles spricht zwar dafür, dass der jetzt auf dem Tisch liegende Deal tatsächlich "im nationalen Interesse" ist. Aber kein Mensch glaubt May mehr.

Abgrenzung zu den Privatschülern der Oberschicht

Als die damalige Innenministerin im Chaos des Sommers 2016 David Cameron in der Downing Street ablöste, wirkte ihr Einzelgängertum attraktiv. Ausdrücklich setzte sich die auf öffentlichen Schulen erzogene Enkelin eines Hausmädchens und Tochter eines anglikanischen Geistlichen ab von der Clique smarter Privatschüler der Oberschicht. Sie sei keine angeberische Politikerin, teilte May mit, ideologische Gewissheit oder persönlicher Ehrgeiz lägen ihr fern. "Ich bin die Tochter eines Landpfarrers und die Enkelin eines Oberstabsfeldwebels. Der Dienst am Gemeinwesen hat mich definiert, solange ich denken kann."

Aber Kommunikation über Gruppen- und Parteigrenzen hinweg gehört zur Kernaufgabe von Politikern im 21. Jahrhundert – umso mehr im tief gespaltenen Großbritannien 2019. May hat sich nicht ein einziges Mal ausdrücklich an jene 48 Prozent gewandt, die vor drei Jahren in der EU bleiben wollten. Und nie hat sie den 52 Prozent offen erläutert, dass der Austritt nur mit enormen Schwierigkeiten und schmerzhaften Kompromissen zu bewerkstelligen ist.

Parallelen zu Cameron

Vor der Abstimmung ähnelt die Premierministerin mehr und mehr ihrem Vorgänger: Wie Cameron im Februar 2016, so hat auch May im November 2018 aus Brüssel einen in vieler Hinsicht vorteilhaften Deal mitgebracht. Rosinenpickerei dürfe es nicht geben, hatte es vorab in Brüssel immer geheißen. Das Verhandlungsergebnis aber, glaubt der CDU-Brexit-Experte Detlef Seif, "kommt dem Rosinenpicken schon sehr nah". Von einem Sieg der EU könne keine Rede sein.

Genau diesen Eindruck aber haben Politik und Medien auf der Insel erzeugt, jetzt ebenso wie 2016. Der damalige Premier Cameron gab binnen 48 Stunden alle Versuche auf, die Vorzüge seiner Vereinbarung zu preisen. Stattdessen beschwor er die negativen Folgen des Brexits für die Volkswirtschaft. Ähnlich verfährt jetzt May. Statt beharrlich und offensiv für das Austrittspaket zu werben, malt sie den Teufel an die Wand: Sollte der Brexit nicht zustande kommen, wäre "ein katastrophaler Vertrauensverlust" die Folge. Und ein Ausscheiden ohne Vertrag könne zum Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs führen. (Sebastian Borger aus London, 15.1.2019)