Die Landung von Rahaf al-Kunun in Kanada mag sanft gewesen sein, aber der jungen Frau, die sozusagen auf den Schwingen von Social Media aus Saudi-Arabien (über den Umweg Thailand) und vor ihren Eltern floh, bläst aus denselben auch recht kalter Wind entgegen. Zu jenen Stimmen aus dem wahhabitischen Königreich, die ihr Tod und Verderben wünschen, gesellten sich in den vergangenen Tagen unfreundliche aus ihrem Gastland: Während Rahaf von der kanadischen Außenministerin Chrystia Freeland am Flughafen abgeholt worden sei, müssten andere Asylsuchende lange warten, Einwanderer hart um ihren Aufstieg – und Kanadier gegen ihren Abstieg – kämpfen. Und von einigen Personen aus der arabischen Welt, die Rahafs Flucht durchaus mit Sympathie verfolgten, kommt nun Kritik, weil sie sich, vielleicht ohne es zu wissen, von islamfeindlichen Kreisen vereinnahmen ließ.

Rahaf al-Kanun bei einer Pressekonferenz in Kanada: Sie wolle nur ein normales Leben, sagte sie.
Foto: Cole BURSTON / AFP

Für keine 18-Jährige dürfte es ganz leicht sein, alle Brücken zur Familie hinter sich abzureißen. Aber wenn man aus einer konservativen Gesellschaft wie der saudi-arabischen kommt, ist der Schritt in die völlige Unabhängigkeit ein besonders großer. Mündigkeit, Großjährigkeit nach unsere Standards gibt es für eine Frau in Saudi-Arabien nicht. Legal ist und bleibt sie unmündig, egal wie alt sie ist. Von ihrem Vater geht die Vormundschaft bei Verheiratung an ihren Mann über, wenn beides nicht (mehr) vorhanden, eben auf einen anderen männlichen Verwandten. Das kann bei einer Witwe auch der eigene Sohn sein, der dann zu bestimmen hat, ob seine Mutter zum Beispiel reisen darf oder nicht.

Versuchsballon eines Chefredakteurs

Mit Interesse nahm man deshalb vergangene Woche den Kommentar des Chefredakteurs von "Arab News", Faisal J. Abbas, zur Kenntnis: "Männliche Vormundschaft über Frauen in Saudi-Arabien ist falsch und diskriminierend, und alle Formen dieser überholten Praxis gehören abgeschafft", lautet der erste Satz. Und das habe nichts mit dem Fall Rahaf zu tun. "Arab News" ist englischsprachig, ja, auch ein saudisches PR-Tool nach außen, erscheint jedoch immerhin in Jeddah. Abbas argumentiert seine Forderung mit der von oben verschriebenen Reform-Agenda 2030, die Saudi-Arabien zu einem modernen Land mache.

Abbas kritisiert auch die kolportierte Misshandlung von weiblichen Aktivistinnen im Gefängnis – er nennt es nicht so, er schreibt über "legitime Besorgnis über die Umstände der Festnahme und der Haft" – sowie saudi-arabische Medien, die diese Frauen vorverurteilt hätten. Das nährt die Hoffnung auf eine positive Wende, wenigstens in der Sache Loujain al-Hathloul und der mit ihr im Vorjahr verhafteten Aktivistinnen. Auch US-Außenminister Mike Pompeo hat ihr Schicksal bei seinem Besuch in Saudi-Arabien angesprochen. Viele andere Kritiker und Dissidenten – nicht nur liberale, sondern auch ultrakonservative, also nicht sehr sympathische – bleiben im Gefängnis.

Kleine Schritte

Die Geschicke Saudi-Arabiens werden momentan in hohem Maß von einem 33-jährigen Mann bestimmt, dem man nicht weniger als einen Mordbefehl gegen einen Journalisten zutraut. Repression im Inneren, der Krieg im Jemen außerhalb, schlechter könnte das Image des Landes nicht sein. Das sind keine gute Zeiten dafür, sich "sine ira et studio" den ganz kleinen vorsichtigen Verbesserungen für Frauen im Familienrecht zu widmen. Und man kann ja den Kritikern nicht einmal Unrecht geben: Was soll schon Positives daran sein, wenn eine Frau nun per SMS verständigt werden muss, wenn sich ihr Gatte entschlossen hat, sich schnell einmal von ihr scheiden zu lassen? Das wurde vor ein paar Tagen gemeldet.

Dennoch, es ist eine Verbesserung, und zwar nicht nur im atmosphärischen Bereich. Nach wie vor kann sich ein Mann ganz leicht scheiden lassen, aber eben nicht mehr heimlich, wie es bisher oft geschah. Durch die Scheidung werden nämlich durchaus auch finanzielle Verpflichtungen des Mannes seiner Exfrau gegenüber schlagend: So wird etwa das Brautgeld, das er oder seine Familie bei der Hochzeit zusagt, in dem Moment, wo er sich davonmachen will, fällig.

Kein Personenstandsgesetz

Saudi-Arabien hat keine Verfassung, sondern nur ein Grundgesetz, das im Artikel 10 zu Familienangelegenheiten die "arabischen und islamischen Werte" betont. Es gibt auch kein kodifiziertes Personenstandsgesetz, das heißt Richter haben viel Interpretations- und Entscheidungsfreiheit. In der vergangenen Zeit wurden ein paar regulative Schritte zugunsten der Frauen gesetzt: kleine Erleichterungen, die Scheidung einzureichen, oder die Möglichkeit, ohne Klage das Sorgerecht für die Kinder zu beantragen. Letzteres ist ja eines der schlimmsten Kapitel: Wenn es nicht anders geregelt wird, bleiben die Kinder im Fall der Scheidung nur bis zum siebten (Mädchen) beziehungsweise neunten (Buben) Lebensjahr bei der Mutter, im Fall des Todes des Vaters fällt die Vormundschaft an einen seiner männlichen Verwandten.

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Viele Frauen hatten, als im Juni 2018 das Fahrverbot fiel, bereits einen Führerschein aus dem Ausland.
Foto: REUTERS/Hamad I Mohammed

Neu ist auch ein Gesetzesentwurf aus der Schura (des vom König ernannten Rats, in dem seit einigen Jahren auch Frauen sitzen), der die Eheschließung von Jugendlichen zwischen 15 und 18 streng reglementieren soll. Das soll "Gesundheitsprobleme" – und die hohen Scheidungsraten – senken, heißt es euphemistisch.

Frauen in der Wirtschaft

Man kann es drehen und wenden, wie man will, selbstverständlich verändert der von oben erwünschte Eintritt der Frauen in die Wirtschaft die saudi-arabische Gesellschaft. Die strikte Geschlechtertrennung ist nicht mehr durchzuhalten – in der Freizeit, wo es erstmals gemischte Veranstaltungen gibt – darf der neue Umgang geübt werden. Die ökonomische Aktivierung der Frauen ist dem Staat so wichtig, dass er dafür sogar von der – wenigstens bisher – sakrosankten männlichen Vormundschaft einige Abstriche zuließ. So braucht die Frau keine Erlaubnis ihres Mannes, arbeiten zu gehen, zu studieren oder einen Führerschein zu machen. Theoretisch. Die Praxis sieht natürlich immer wieder anders aus.

Und während die Frauen Auto fahren, sitzen viele jener Aktivistinnen, die dafür gekämpft haben, im Gefängnis. Sie sollen erstens nicht daran erinnern, dass nicht der Kronprinz die Modernisierung quasi erfunden hat, und sie sollen nicht glauben, dass sie aus den neuen Rechten zukünftige ableiten können. Aber wie die aus Saudi-Arabien stammende Frauenrechtlerin Hala al-Dosari von Human Rights Watch im Juni 2018, als das Fahrverbot fiel, sagte: "Es mag eine PR-Aktion sein, aber es ist eine, die durch die Arbeit von Aktivistinnen losgetreten wurde." (Gudrun Harrer, 15.1.2019)