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May verlor die Abstimmung über ihren Brexit-Deal mit 230 Stimmen – die größte Niederlage einer britischen Regierung im Parlament seit den 1920ern.

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Gegner (Bild) und Befürworter des Brexits feierten am Abend in London gleichermaßen Mays Niederlage.

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Großbritannien sieht sich mit der schwersten politischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert: Mit einer überwältigenden Mehrheit von 432 zu 202 Stimmen hat das Unterhaus am Dienstagabend das Verhandlungspaket der konservativen Minderheitsregierung von Premierministerin Theresa May über den EU-Austritt abgelehnt.

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Neben der Opposition lehnten damit auch über hundert Tory-Abgeordnete den Austrittsvertrag sowie die politische Zukunftserklärung ab, die May mit Brüssel ausgehandelt hatte. Daher steuert das Land nur 73 Tage vor dem geplanten Austrittstermin Ende März auf einen chaotischen Brexit ("no deal") zu.

Regierung "wird zuhören"

"Das Unterhaus hat gesprochen, und die Regierung wird zuhören", teilte May unmittelbar nach der Abstimmung mit. Sie kritisierte aber die Opposition für die jetzt entstandene Unklarheit. Ausdrücklich forderte sie Labour und die anderen Oppositionsparteien dazu auf, die Misstrauensfrage zu stellen. Davor war Labour-Chef Jeremy Corbyn bisher zurückgeschreckt.

Der 69-Jährige antwortete nun aber unmittelbar: Das Unterhaus solle der "völlig inkompetenten" Regierung heute, Mittwoch, das Misstrauen aussprechen. Allerdings haben die konservativen Rebellen sowie die nordirische Unionistenpartei DUP Theresa May direkt nach dem Votum die Unterstützung zugesagt, weshalb Corbyns Antrag wenig Erfolgsaussicht hat.

Wirtschaftsverbände reagierten entsetzt auf die Ablehnung des Austrittsvertrags. "Wir brauchen sofort einen neuen Plan", forderte Carolyn Fairbairn von der Unternehmerlobby CBI. Die Finanzstabilität des Landes dürfe nicht durch einen hochriskanten politischen Poker aufs Spiel gesetzt werden, sekundierte Catherine McGuinness von der City of London. Der Verband der Lebensmittelproduzenten, FDF, plädiert nun für eine Vertagung des Austrittstermins.

Die Niederlage der Regierung ist von historischen Ausmaßen: Seit den 1920er-Jahren, als eine kurzfristige Labour-Minderheitsregierung ums Überleben kämpfte, hat es keine so schwere mehr gegeben. Gegen Labour-Premier Tony Blair rebellierten im März 2003 139 Fraktionsmitglieder, als es um die britische Beteiligung am Irak-Krieg ging. Damals rettete ihn aber die Tory-Opposition.

Volksfeststimmung

Vor dem Palast von Westminster herrschte nachmittags indes beinahe Volksfeststimmung. Tausende von EU-Freunden forderten auf der Grünfläche vor dem Parlament ein zweites Referendum zur Korrektur des Volksentscheids, der im Juni 2016 mit 52:48 Prozent den Austritt verfügt hatte.

Hunderte Brexit-Befürworter warben dagegen mit Slogans wie "Austritt bedeutet Austritt" und "Kein Deal, kein Problem" für ihre Sache und machten mit lautem Glockengebimmel auf sich aufmerksam. Immer wieder gab es freundschaftliche Diskussionen – keine Spur von der giftigen Atmosphäre von vergangener Woche, als bekannte Rechtsradikale prominente Abgeordnete und Journalisten als "Verräter" und "Nazis" beschimpft hatten.

Allerdings konnten sich die Befürworter eines harten Brexits ebenso wie die eingefleischten Anhänger einer großbritannischen EU-Mitgliedschaft diesmal sicher sein, dass der Abend keine Entscheidung bringen würde. Die Stimmung könnte sich sehr rasch ändern, wenn das Parlament tatsächlich den zukünftigen Kurs des Landes festlegen muss. (Sebastian Borger, 15.1.2019)