Premierministerin Theresa May inmitten eines Dilemmas.

Foto: Ben STANSALL / AFP

STANDARD: Wären Sie die sprichwörtliche Maus, würden Sie lieber Premierministerin Theresa May oder Oppositionschef Jeremy Corbyn belauschen?

Sully: In England ist es die Fliege, die sich unbemerkt einschleicht und mithört (lacht). Aber im Ernst: Da fände ich Corbyn interessanter, weil ich bei May ohnehin zu wissen meine, wie sie denkt. Sie ist sehr konsequent und ändert ihre Linie nicht. Viel lieber wäre ich dabei, wie im Team von Corbyn über die Möglichkeit eines zweiten Referendums diskutiert wird und welche Pläne es gibt, wenn der Misstrauensantrag wie erwartet heute nicht durchgeht. Irgendwie geht für Labour nichts weiter. Genauso wie May hat auch Corbyn alle Hände voll zu tun, die einzelnen Gruppen in seiner Partei unter einen Hut zu bringen. Eigentlich kann er auch nur den Beschluss des Labour-Parteitags zitieren, der eben vorsieht, zuerst auf Neuwahlen hinzuwirken und erst dann ein Referendum zu fordern. Corbyn befindet sich auf der Bahn dorthin, wo er nicht hinwill.

STANDARD: Was geht im Labour-Chef vor?

Sully: Man hat fast das Gefühl, als wäre Corbyn die ganze Brexit-Diskussion lästig. In den zweieinhalb Jahren seit dem Referendum ist er immer wieder im Parlament bei der Fragestunde mit allen anderen Themen als dem Brexit aufgetreten. Etwa wie es mit der Finanzierung des Spitalswesens weitergeht oder wie die Regierung die Armut im Land bekämpfen will. Diese Themen interessieren ihn, Brexit ist für ihn nur eine Ablenkung von den, wie er sie nennt, realen Problemen im Land.

STANDARD: May wird in Porträts gerne als stur bezeichnet. Aber warum tritt sie nach einer solchen Niederlage nicht zurück, was hält sie?

Sully: Ziemlich viele Leute wollen ihren Job haben, das steht jedenfalls fest. Es gibt bei den Tories immer sehr viele Möchtegernpremierminister. Darüber hinaus ist es aber eine Generationenfrage, denke ich. Wie so viele Politikerinnen ihres Alters ist May ohne Netzwerk an die Macht gekommen, sie hat bis heute keine echte Hausmacht in der Partei, was sie an die Spitze gebracht hat, ist einzig ihr Ehrgeiz und ihr eiserner Wille. Der Deal mit Brüssel ist ihr Deal, sie hat aber den Fehler gemacht, keine Verbündeten zu suchen. Das hätte sie längst machen müssen, nun ist es zu spät, sie ist zu isoliert. Diese 600 Seiten haben ihre Minister teils erst im Dezember zu Gesicht bekommen, die Abgeordneten fühlen sich ebenfalls überrumpelt, weil May das alles allein ausverhandelt hat. Im Endeffekt ist sie selbst an dem Schlamassel schuld.

STANDARD: Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, einen No-Deal-Brexit noch zu verhindern?

Sully: Im Parlament gibt es sicher eine Mehrheit gegen einen ungeregelten No-Deal. Und auch finanziell kann die Regierung einen solchen Brexit nicht unterstützen. Wir brauchen vom Parlament aber etwas Positives, und genau das ist derzeit nicht in Sicht.

STANDARD: Es sind nurmehr knapp 70 Tage bis zum 29. März, an dem Großbritannien die EU verlassen will.

Sully: Möglicherweise wird das nun verlängert. Wenn sich nächste Woche nichts Großes bewegt, kann sich das alles nicht mehr ausgehen. Auch deshalb, weil vor dem Brexit eine Reihe von Begleitgesetzen verabschiedet werden muss, etwa zu den Themen Einwanderung und Agrarpolitik. Und in dem Moment, wo das Parlament den Deal theoretisch doch noch annimmt, würde Mays nordirischer Koalitionspartner DUP die Regierung verlassen und May hätte keine Mehrheit mehr, um die Gesetze zu beschließen. Andererseits bringt eine Verlängerung auch nicht viel, solange im Parlament eine solche Pattsituation besteht. Darum glaube ich, dass Neuwahlen tatsächlich die einzige Lösung sein können.

STANDARD: Wird Brüssel London denn tatsächlich mehr Zeit geben?

Sully: Die Frage ist, was die EU will. Wenn sie will, dass London den Deal unterschreibt, weil er für die EU gut ist und Großbritannien eigentlich der Verlierer ist, dann könnte sie zum Beispiel bei der politischen Erklärung noch etwas ändern, weil es dort mehr Spielraum gibt. Oder aber die EU hofft doch noch darauf, dass eine Verlängerung zu einem schlussendlichen Verbleiben Großbritanniens führt, etwa weil das Parlament lahmgelegt ist und es zu einem zweiten Referendum kommt. Man hat das Gefühl, dass die EU und May zusammen eine Strategie des Hinausschiebens verfolgen.

STANDARD: In einem Text im STANDARD haben Sie mehr direkte Demokratie in Großbritannien befürwortet. Haben Sie Ihre Landsleute im Nachhinein betrachtet überschätzt?

Sully: Ich denke nicht. Ich bin noch immer für mehr direkte Demokratie, wir haben ja viele Referenden erfolgreich umgesetzt, etwa in Schottland, Nordirland und Wales. Es gibt eine Tradition, dass man für große, verfassungsändernde Dinge das Volk fragt, etwa die Abschaffung des Oberhauses oder der Monarchie. Das Problem 2016 war, dass es im Gegensatz zum Unabhängigkeitsreferendum in Schottland 2014 nicht genug Zeit für Diskussion gegeben hat. David Cameron (konservativer Premier von 2010 bis 2016, Anm.) wollte das ganz einfach durchpeitschen. Wir brauchen neue Gesetze für die Parteienfinanzierung und neue Spielregeln für Social Media. Die Gesetze dafür sind historisch und völlig überholt für das digitale Zeitalter. Und vor allem brauchen wir als Ergänzung für die direkte Demokratie ein Parlament, das dann entscheidet, wie das Ergebnis umgesetzt wird. Mays Fehler war, dass sie 2017 ihre absolute Mehrheit verspielt hat. Wäre das nicht so, wäre der Vertrag mit der EU längst unterschrieben. (Florian Niederndorfer, 16.1.2019)