Es sind nur vereinzelte Schüsse, die von der nahen Grenze zu hören sind. Sie ziehen sich über eine Stunde hin. Angesichts der gespannten Lage zwischen der Türkei und den kurdisch dominierten Autonomiegebieten im Nordosten Syriens, scheint es mir nach einer Weile trotzdem ratsam einmal einige gut informierte Freunde anzufragen ob sie wüssten, was denn gerade am Rande Amude, einer kurdischen Kleinstadt direkt an der türkischen Grenze, gerade los wäre. Ein 51-jähriger Bauer wäre von türkischen Soldaten angeschossen worden. Seither werden offenbar weitere Schüsse abgefeuert. Ob sie alle von der türkischen Seite kommen oder wie viele davon zurückgefeuert werden, kann das militärisch wenig geübte Ohr nicht so genau sagen.

Die kurdische Stadt Amude im Jänner: Jeden Samstag findet hier ein Markt statt.
Foto: Thomas Schmidinger

Verteidigungsvorbereitungen

Der große türkische Angriff ist das nicht, eher ein Geplänkel, das für den Bauer, namens Dawut Muhammed, zwar tragisch ist, die politische Entwicklung aber nicht entscheidend bestimmen wird. Die Kurden im Nordosten Syriens sind allerdings seit der Ankündigung des Abzugs der US-Armee durch US-Präsident Trump alarmiert. Ihre militärischen Kräfte bereiten sich auf den Ernstfall vor. Auch wenn man eine Nato-Armee samt Luftwaffe nicht schlagen kann, so würde es den hochmotivierten Volksverteidigungseinheiten YPG und ihren arabischen, christlich-aramäischen und turkmenischen Verbündeten im Militärbündnis "Syrische Demokratische Kräfte" doch gelingen, den Preis für die Eroberung Nordostsyriens in die Höhe zu treiben. Die kurdischen Kämpfer und ihre Verbündeten sind kampferfahren. Immerhin haben sie seit 2015 im Bündnis mit den USA den IS erfolgreich bekämpft, dessen Kämpfer als sehr trainiert, erfahren und rücksichtslos gelten. Spezialeinheiten der Syrischen Demokratischen Kräfte, darunter eben auch kurdische Kämpfer der YPG, wurden von US-Spezialisten trainiert. Und die Armee der Autonomieverwaltung Nordostsyriens – wie sich das politische Projekt seit Dezember nennt – ist besser bewaffnet denn je. Sie verfügt über Panzer und Panzerabwehrraketen. Das einzige was ihnen fehlt ist eine Luftwaffe. Diese hatte ihnen in den letzten vier Jahren die US-Army gestellt. Wenn diese nun abzieht, wird sie nicht nur gegen den IS fehlen.

Bei einem reinen Bodenkampf hätten die Syrischen Demokratischen Kräfte durchaus gute Chancen gegen die türkische Armee. Insbesondere die mit der Türkei verbündeten Milizen hätten wohl wenig Chancen gegen die ortskundigen und hochmotivierten Verteidiger. In den vergangenen Tagen hatten die protürkischen Milizen ihre Kampfuntauglichkeit gleich mehrfach unter Beweis gestellt. In der Provinz Idlib wurden sie innerhalb weniger Tage von der dschihadistischen Hayat Tahrir ash-Sham, der ehemaligen syrischen al-Qaida-Gruppe Jabhat al-Nusra, aufgerieben und flüchteten in das türkisch besetzte Afrin. Dort mehren sich seit Wochen wiederum die kurdischen Angriffe gegen Besatzer und Milizen. Viele syrische Kurden hoffen, dass es sich die Türkei doppelt überlegen wird, sie anzugreifen, wenn sie nicht einmal ihr bestehendes Besatzungsgebiet im Nordwesten Syriens unter Kontrolle bekommt.

Gefallenenfriedhof in Kobane: Hier sind auch YPG-Gefallene aus Minbic begraben.
Foto: Thomas Schmidinger

 Angst vor einem zweiten Afrin

Der trotzige Widerstandsgeist der Bevölkerung vermischt sich nichtsdestotrotz mit der Angst vor einem ähnlichen Szenario wie in Afrin. Am Ende eines zwei Monate dauernden Widerstands, hatte dort Anfang 2018 schließlich doch die überlegene Luftwaffe der Nato-Armee den kurdischen Widerstand gebrochen. Mit den Kämpfern verließen über 150.000 Zivilisten Afrin. Die meisten von ihnen harren bis heute in notdürftig aufgestellten Zeltlagern in der nahe gelegenen Shehba-Region aus. Diese wird zwar weiterhin von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten kontrolliert, ist allerdings von der Regierungsarmee umschlossen und auf deren Duldung angewiesen. Die Region ist deshalb extrem schwer zu erreichen. Auch Hilfsorganisationen kommen nur selten bis dort hin. Allenfalls Kooperationen mit dem lokalen Kurdischen Roten Halbmond ermöglichen dringend benötigte medizinische Versorgung oder Hilfe für den Winter.

Sorgen macht man sich auch in Kobane. Vier Jahre ist es her, dass die Stadt sich gegen den IS verteidigt hat. Bezahlt wurde der Sieg nicht nur mit einem extrem hohen Blutzoll, sondern auch mit einer weitgehenden Zerstörung der Stadt. Vom Trümmerfeld, das 2015 vom IS hinterlassen wurde, ist heute nur noch wenig zu sehen. Kobane ist zu 90 Prozent wieder aufgebaut und zwar ohne große internationale Beteiligung. Der Wiederaufbau der Stadt ist primär ein Werk der lokalen Bevölkerung.

Mit dieser Statue im Zentrum von Kobane wird heute der Schlacht gegen den IS gedacht.
Foto: Thomas Schmidinger

Kobane wird sich erneut wehren

In einem großen Zelt in der Nähe des geschlossenen Grenzübergangs zur Türkei versammeln sich seit Tagen Zivilisten der Stadt um gegen die türkischen Angriffspläne zu protestieren. Auf den beiden Transparenten am Eingang des Zeltes steht auf Arabisch und Kurdisch zu lesen: "Eure Drohungen werden den Zusammenhang der verschiedenen Komponenten der Bevölkerung Nordostsyriens verstärken!" und "Eure Drohungen werden unseren Widerstand bestärken!" Der Direktor einer lokalen Volksschule erklärt mir trotzig: "Wir haben uns gegen den IS verteidigt. Wir werden uns auch gegen die Türkei verteidigen! Und wenn es sein muss bauen wir Kobane auch noch ein zweites Mal wieder auf." Andere Besucher des Zeltes sind etwas ängstlicher: "Warum lässt und die Welt im Stich?" fragt eine junge Frau. Als ein junger Mann mitbekommt, dass ich an einer europäischen Universität Politikwissenschaft unterrichte, fragt er mich, ob ich denn glauben würde, dass die Türkei angreifen und sich die USA tatsächlich zurückziehen würden. Immerhin wird meine bloße Anwesenheit als tröstend empfunden. Wenn sich ein Ajnabi – ein Ausländer – noch hierher traut, kann die Kriegsgefahr noch nicht ganz so akut sein, scheinen sich einige zu denken. 

Ziviles Protestzelt gegen die türkischen Angriffsdrohungen in Kobane.
Foto: Thomas Schmidinger

Der Ajnabi kann allerdings jederzeit wieder abreisen. Er hat einen Reisepass eines EU-Staates. Die meisten Bürger Kobanes haben nach sieben Jahren Bürgerkrieg nicht einmal einen gültigen syrischen Pass, wenn sie denn je einen hatten. Wer einen beantragen will, muss eine gefährliche Reise ins von der Regierung gehaltene Aleppo auf sich nehmen. Dabei spricht es sich mittlerweile herum, dass das Regime in den letzten Tagen viel schärfer kontrolliert und auch Frauen damit rechnen müssen, verhaftet zu werden, wenn sie sich irgendwie an der Autonomieverwaltung Nordostsyriens beteiligen. Männern droht schlimmeres: Neben Haft und Folter möglicherweise auch die Zwangsrekrutierung für die syrische Armee. Und so zählt es unter den Kurden der Region auch zu den Kriegsvorbereitungen, sich Wege zu überlegen, wie man denn im Notfall zu irgendwelchen Dokumenten kommen könnte, die einem zumindest die Flucht in den Irak ermöglichen könnten. In die Türkei kann man vor der Türkei kaum fliehen und was einem im Gebiet des Regimes erwartet, ist ungewiss.

Kobane ist heute weitgehend wieder aufgebaut. Droht eine erneute Zerstörung?
Thomas Schmidinger

Gespräche mit dem Regime

Trotzdem laufen hinter den Kulissen Gespräche mit dem Regime auf Hochtouren. Nach der Abzugsankündigung Trumps war hier allen klar, dass man sich wohl oder übel nur mit irgendeiner Art von Verständigung mit Russland und dem Regime zumindest Teile der errungenen Freiheiten behalten wird können. Viele hoffen darauf, dass Regimetruppen nur an den Außengrenzen Syriens stationiert werden könnten und möglichst viel Autonomie zumindest für die kurdischen und assyrischen Gebiete bewahrt werden kann. Ob ein solcher Kompromiss mit dem Regime illusorisch ist, wird wohl vor allem von Russland abhängen, ohne das in Damaskus nichts mehr entschieden wird. Russland kann das Regime zu einem Kompromiss drängen. Es kann aber auch sein, dass Russland die Kriegsdrohungen der Türkei dazu nutzt die Kurden und ihre Verbündeten so stark unter Druck zu setzen, dass diese irgendwann die vollständige Rückkehr des Regimes als geringere Katastrophe akzeptieren würden.

In der Stadt Manbidsch, dem Hauptort des westlich des Euphrat gelegenen Autonomiegebietes, hat sich die Lokalverwaltung bereits darauf festgelegt, die Stadt im Ernstfall lieber vollständig dem Regime zu übergeben, als sie der Türkei auszuliefern. Die mehrheitlich arabische Stadt, mit kurdischen, tscherkessischen und turkmenischen Minderheiten, wird von arabischen Verbündeten der YPG, dem sogenannten Militärrat von Manbidsch kontrolliert. Bereits seit einigen Tagen patroullieren an der Demarkationslinie zwischen Manbidsch und den türkisch besetzten Euphrat-Schild-Regionen amerikanische und russische Militärs samt ihren Flaggen. Damit soll der Türkei und den protürkischen Milizen klar gemacht werden, dass ein Angriff von dieser Seite nicht geduldet werden würde. In einigen Abschnitten der Demarkationslinie sind auch reguläre Einheiten der Syrischen Armee mit Zustimmung des Militärrates nachgerückt. Entgegen einiger Meldungen wurde die Stadt selbst allerdings nicht der syrischen Armee übergeben. Stadt und umliegende Dörfer werden weiterhin von der Autonomieverwaltung Nordostsyriens kontrolliert.

Der Anschlag in Manbidsch am Mittwoch, bei dem auch erstmals US-Soldaten ihr Leben verloren, scheint auch im Kontext der Auseinandersetzungen um dieses Gebiet zu stehen. Kaum jemand glaubt in Syrien, dass dieser allein vom IS verübt wurde und nicht in einem Zusammenhang mit den jüngsten Konflikten zwischen der Türkei und der USA um eine türkische Besetzung des Gebietes steht.

Bis hin zu den Nummerntafeln wird Dreisprachigkeit praktiziert: Kurdisch, Aramäisch und Arabisch
Foto: Thomas Schmidinger

Aufbau einer multiethnischen Verwaltung

Diese versucht mittlerweile über ein Gebiet, das sich über ein Viertel des syrischen Staatsgebietes erstreckt, zu verwalten. Die kurdischen Gebiete sind dabei mittlerweile deutlich weniger als die Hälfte des Territoriums. Um der Multiethnizität des Gebietes gerecht zu werden, wurde dieses nicht nur in Nordostsyrien umbenannt, sondern auch der Sitz der Verwaltung in eine arabische Kleinstadt südöstlich von Kobane, nach Ain Issa, verlegt. Im nahegelegenen Flüchtlingslager leben deutlich mehr Menschen als in der Stadt selbst. Hier sitzt allerdings jener Teil der syrischen Opposition, der sich noch nicht ins Ausland abgesetzt hat oder zu den verschiedenen islamistischen Milizen übergelaufen ist. Der Syrische Demokratische Rat, der hier seinen Sitz hat, umfasst arabische, kurdische, christliche und turkmenische Gruppen, darunter auch Vertreter der säkularen Teile der ehemaligen Freien Syrischen Armee, die seit 2015 mit der kurdischen YPG in den Syrischen Demokratischen Kräften vereint sind.

Der gemeinsamen Verwaltung ist es in den letzten Jahren durchaus gelungen gemeinsame staatliche Strukturen aufzubauen. Ein sichtbares Zeichen für eine gewisse Konsolidierung dieser Strukturen ist der Aufbau einer regulären Polizei, die die meisten Checkpoints, die früher von Milizen kontrolliert wurden, übernommen hat. Selbstverständlich sind auch an diesen Posten Personen, denen die Verwaltung vertraut. Diese sind aber ethnisch gemischt und treten zumindest nach außen politisch neutral auf. Armee und Polizei sind damit klar getrennt. Lediglich in einigen arabischen Gebieten sind noch Checkpoints arabischer Stammesmilizen, wie der Schammar-Miliz Quwwat as-Sanadid ("Kräfte der Mutigen") und in einigen christlich-aramäischen Orten die christliche Polizei Sutoro zu finden. Ansonsten übernimmt die innere Sicherheit nur die Polizei mit ihrer politisch und ethnisch neutralen Symbolik und ihren zweisprachigen Aufschriften in Arabisch und Kurdisch.

Politisch neutrales Symbol der Polizei mit kurdischer und arabischer Aufschrift.
Foto: Thomas Schmidinger

Für die mit den Kurden verbündete arabische Opposition ist die derzeitige Entwicklung möglicherweise noch gefährlicher als für die Kurden selbst. Sollte man zu einem Kompromiss mit dem Regime gezwungen sein, gesteht dieses ihnen vielleicht noch eine gewisse Autonomie zu. Eine arabische Alternative zum Regime ist allerdings schwer vorstellbar. Bei Versuchen als Syrischer Demokratischer Rat mit Russland ins Gespräch zu kommen, wurde den kurdischen Vertretern bereits deutlich signalisiert, dass man zwar mit ihnen zu verhandeln gewillt wäre, nicht aber mit der arabischen Opposition. Sollte Nordostsyrien gezwungen sein, sich beim Regime Schutz vor der Türkei zu suchen, wäre es mit einer Alternative zum Regime wohl für lange Zeit vorbei.

Checkpoint der Quwwat as-Sanadid, der Miliz des Arabischen Schammar-Stammes in deren Gebiet.
Foto: Thomas Schmidinger

Für die Christen der Gebiete wäre ein Einmarsch der Türkei ohnehin eine Katastrophe. Weder die aramäischsprachigen, noch die armenischen Christen können sich vorstellen unter türkischer Besatzung zu leben. Zu lebendig ist deren Erinnerung an den Genozid von 1915. Die meisten von ihnen sind Überlebende der damaligen Massaker der jungtürkischen Regierung. Armenische und assyrische Christen erzählen sich von Generation zu Generation die Geschichten ihrer Vorfahren, die aus der heutigen Türkei nach Syrien deportiert wurden. Aus ihrer Sicht sind die Drohungen der Türkei nichts anderes als eine Fortsetzung des Genozids des Osmanischen Reiches.

Vor den Kirchen der Christen Nordostsyriens steht noch der Weihnachtsschmuck: Derik im Jänner 2019.
Foto: Thomas Schmidinger

Neuer Zusammenhalt oder Rückkehr des Regimes?

Die Drohungen der Türkei könnten damit tatsächlich den Zusammenhalt der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen Nordostsyriens stärken, wie dies auf den Plakaten in Kobane zu lesen ist. Unter türkischer Besatzung will hier niemand leben. Selbst ein Teil der kleinen turkmenischen Minderheit bei Manbidsch beteiligt sich an der Autonomieverwaltung. Eine Rückkehr des Regimes wäre für viele allerdings ein Ende jeglicher Alternative zum extrem autoritären Regime der regierenden Baath-Partei Baschar al-Assads. Auch wenn hier viele darin ein geringeres Übel sehen würden als ein Einmarsch der Türkei, so wäre dies doch eine Wahl zwischen zwei Katastrophen, in die sich die Bevölkerung der Region derzeit gedrängt sieht. Der weitgehende Sieg des Regimes, der Rückzug der USA und die Drohungen aus der Türkei lassen aber wenig Spielraum und so hoffen viele, dass sich zumindest Kompromisse mit Damaskus aushandeln lassen und wenigstens ein Teil der Autonomie zu retten sein wird. (Thomas Schmidinger, 17.1.2019)

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