Das ist Ahsen. Sie wurde mit 14 gegen ihren Willen verheiratet. Sie blickt zurück auf ein Leben voller Gewalt, Zwang und Angst in ihrer Zwangsehe.

Foto: Christoph Liebentritt

Ahsen erzählt über den grauenhaften Alltag aus ihrer jahrelangen Zwangsehe.

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Im Jahr 2000 lässt Ahsen sich offiziell scheiden. Ab da beginnt es, bergauf zu gehen. Aber es ist noch ein langer Weg.

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Foto: biber magazin

"Mama, stimmt das wirklich? Mama, ich bin doch noch ein Kind, ich will zur Schule gehen, bitte Mama, mach es rückgängig." Ahsen erinnert sich noch genau an die Worte, mit denen sie ihre Mutter anflehte. An ihre Angst, ihr Zittern in der Stimme. "Wenn du nicht ja sagst, bist du nicht mehr meine Tochter", sagt ihre Mutter damals nur und besiegelt damit Ahsens Schicksal. Ahsen ist zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt, lebt in der Türkei und muss gegen ihren Willen ihren sechs Jahre älteren Großcousin in einer Stadt in der Provinz Sivas heiraten. Heute ist Ahsen 53 Jahre alt und lebt in einem Gemeindebau in Wien.

Sie blickt zurück auf ein Leben voller Gewalt, Zwang und Angst in ihrer Zwangsehe mit Mehmet*. Ahsen hat Jahrzehnte später endlich einen Weg gefunden, mit ihrem Schicksal umzugehen. Ein Schritt ist, öffentlich über das zu reden, was ihr angetan wurde. "Weil das heute noch immer so vielen Mädchen angetan wird", sagt sie. Nur eine Bedingung hat Ahsen: "Nicht weinen", sagt Ahsen, "nicht weinen bei meiner Geschichte".

Gastarbeiter in Österreich

Ende der 70er Jahre in einem Dorf in Anatolien, Ahsens Großcousin Mehmet* ist damals 20 und arbeitet in Österreich. Im Heimtaturlaub in der Türkei sieht er Ahsen, sie gefällt ihm, er sagt seiner Familie, dass sie eine Verlobung mit ihr in die Wege leiten soll. Das ist damals in der ländlichen Türkei durchaus üblich so. Ahsens Eltern werden daraufhin angesprochen, sie stimmen zu. "Sie haben geglaubt, dass sie mir damit ein besseres Leben in Österreich ermöglichen", sagt Ahsen.

Auch ihre Brüder und Schwestern reden auf Ahsen ein. Ihr Bruder droht ihr mit Gewalt, sollte sie sich weigern, Mehmet zu heiraten. Schließlich gehe es um die Familienehre, sie haben Mehmet ihr Wort gegeben. "Meine Familie war nicht strenggläubig, das Ganze hat nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit der Familienehre", sagt Ahsen. Deshalb muss es auch ihr Großcousin sein und auf keinen Fall jemand, der nicht zur Familie gehört: "Es musste in der Familie bleiben, einen Fremden hätten sie nie akzeptiert", erzählt Ahsen. "Das ist für dich eine große Chance, du gehst nach Österreich", sagt ihr ihre Schwester. Ahsen möchte glauben, was ihre Familie ihr sagt.

Heirat mit 16

Sie fängt an, sich ihr Leben schönzureden, sich mit dem Gedanken an ein Leben mit Mehmet zu arrangieren. Mit 16 muss sie Mehmet offiziell heiraten, denn da können ihre Eltern für sie beim Standesamt unterschreiben, da sie noch nicht volljährig ist. Sie geht mit Mehmet nach Österreich. Kurz davor besorgt sie sich in der Türkei die Pille, sie will auf keinen Fall schwanger werden, sie ist ja selber noch ein Kind. Doch in Österreich verbietet Mehmet ihr die Pille zu nehmen. Zeitgleich fängt er an, sie zu schlagen, bei jeder Kleinigkeit rastet er aus. Mit 17 wird Ahsen mit ihrem ersten Kind schwanger. Ahsen ist aufgeregt, irgendwie freut sie sich aber auch auf das Kind, dann hat sie endlich jemanden, den sie liebt, dann ist sie endlich nicht mehr alleine. Doch sie wünscht sich eine gute Zukunft für sich und das Kind. "Ich habe mir daraufhin zuhause mithilfe eines Wörterbuchs Deutsch beigebracht, ich wollte unabhängig sein", erzählt Ahsen.

Sie fängt an als Hausbesorgerin zu arbeiten, das Geld, das sie dafür bekommt, nimmt Mehmet ihr sofort weg. Sie wohnen damals in einer 28 Quadratmeter kleinen Wohnung in Wien. Ahsen verbringt die meiste Zeit alleine zuhause. "Er ist nach der Arbeit nach Hause gekommen, hat geduscht und ist dann ins Gasthaus. Und dann ist er irgendwann in der Nacht gekommen und hat mich vergewaltigt", erzählt sie. Mehmet holt seine Mutter und seinen Bruder aus der Türkei in die kleine Wohnung nach. Ahsen ist 18 und mit dem zweiten Kind schwanger.

Als sie Bedenken darüber äußert, ob sie zu sechst genug Platz haben werden, schlägt Mehmet Ahsen. Er schlägt sie auch vor seiner Mutter, die zusieht und das toleriert. Er schlägt sie sogar, als sie hochschwanger ist. Ahsen fleht ihre Eltern an, zurückkommen zu dürfen. "Du bist im Hochzeitskleid gegangen und kommst erst im Sarg wieder zurück", sagt ihr Vater.

Das ganze Geld, das Ahsen verdient, bekommt sie nie zu Gesicht. Mehmet gibt ihr nichts, sie muss sich ihre Kleidung umnähen, weil sie kein Geld für Umstandsmode hat. Weil Mehmet keine Waschmaschine kaufen will, muss Ahsen die Kleidung der ganzen Familie, auch die ihrer Schwiegermutter und ihres Schwagers mit der Hand waschen. "Eine Frau hat die Hausarbeit zu machen, sie braucht keine Waschmaschine", sagt Mehmet.

"Rette deine Kinder"

Immer wieder unterbricht Ahsen ihre Erzählung, um sich eine Zigarette anzuzünden. "Wieso bin ich damals nicht ins Frauenhaus gegangen?", sagt sie. Die Nachbarn sehen Ahsen damals oft mit blauen Flecken und blutenden Lippen, keiner sagt etwas. Eines Tages drückt ihr ihre Nachbarin ein Sparbuch in die Hand: "Nimm dir eine neue Wohnung, so kann es nicht weitergehen. Rette deine Kinder." Ahsen hat mittlerweile fünf Kinder, sie leben alle in der winzigen, kalten Wohnung. Doch Ahsen schafft es nicht, die Wohnung alleine mit ihren Kindern zu beziehen, Mehmet kommt mit. "Die Kinder haben ihn so geliebt", sagt sie.

Nach außen hin ist Mehmet ein sympathischer Mann, ein fröhlicher Vater. Er kümmert sich zwar wenig um die Kinder, weil er selten zuhause ist, doch die Kinder lieben ihren Baba. Vor ihnen versteckt Ahsen ihre Gefühle, ihre Angst vor ihrem Mann. Sie schreit nicht, wenn er sie nachts vergewaltigt, sie bleibt stumm, wenn er sie schlägt: "Ich wollte den Kindern nicht ihr Bild von ihrem Vater zerstören", sagt sie.

Schulden in Ahsens Namen

Mehmet schließt auf ihren Namen Verträge ab, macht Schulden in Ahsens Namen. "Er hat für alles Geld ausgegeben, nur bei den Kindern und mir hat er gespart." Als er sich weigert, der Tochter Geld zu geben, damit diese auf einen Schulausflug mitfahren kann, reicht es Ahsen. Sie wirft seine Kleidung aus dem Fenster. Daraufhin taucht er tatsächlich eine Zeit lang nicht auf.

Irgendwann klopft er wieder an der Tür, die Kinder lassen ihn rein, sie dachten, die Eltern hätten einen harmlosen Streit gehabt. "Mama, verzeih ihm – für mich", fleht ihre jüngste Tochter sie an. "Meine Kinder sind meine Goldstücke, mein Ein und Alles. Irgendwie habe ich Mehmet geliebt, ohne ihn hätte ich diese Kinder nicht", sagt sie. Also gibt Ahsen nach.

Scheidung eingereicht

Doch dann schlägt er erstmals ihren Sohn. Da reicht Ahsen die Scheidung ein, sie muss den Kindern ihr Bild von ihrem Vater nicht zerstören, er hat es selbst getan – das erkennt sie jetzt. Im Jahr 2000 ist sie endlich offziell geschieden. Doch sie weiß, dass Mehmet sie nicht einfach so in Ruhe lassen wird. Sie kann nachts deshalb nicht schlafen, hat Herzrasen.

Sie geht zum Arzt, sagt, dass es ihr nicht gut geht: "Mein Gehirn ist krank, schicken Sie mich auf die Baumgartner Höhe!" (Anm. d. Red.: sozialmedizinisches Zentrum in Wien), schreit sie. Dann wird alles schwarz. Ahsen erinnert sich nur noch, wie sie aufwacht und nicht weiß, wo sie ist. "Sie haben zwei Wochen geschlafen", sagt ihr der Mann, der sich im Raum befindet. Er ist Arzt. Ahsen befindet sich auf der Intensivstation der Baumgartner Höhe. "Sie hatten einen Nervenzusammenbruch", erklärt der Arzt.

"Verzeih mir!"

Da beginnt Ahsen zu verstehen. Das Herzrasen, die Schlafstörungen – ihre Psyche konnte schon lange nicht mehr, jetzt ist auch der Körper an seine Grenzen gestoßen. "Wenn Sie wieder zu ihrem Mann zurückgehen, werden Sie nie gesund", sagt ihr der Doktor. "Das können Sie Ihren Kindern nicht antun." Ihre Kinder, ihre Goldstücke. Ahsen sucht das Gespräch mit Mehmet, sagt ihm, dass er sie in Ruhe lassen muss. Er weint und steht ein paar Tage später trotzdem vor ihrer Tür.

Ahsen denkt an ihre Kinder, an die Worte ihres Arztes, dann ruft sie die Polizei, das hätte sie schon vor Jahren machen sollen. Laut polizeilichem Beschluss darf Mehmet sich ihr ab jetzt nicht weiter als 200 Meter nähern. Mehmet begreift, wie ernst es seiner Ex-Frau ist, er taucht unter, niemand weiß, wo er ist. Gleichzeitig heißt das aber auch, dass er keine Alimente zahlt. Doch Ahsen ist das egal, Hauptsache sie und ihre Kinder haben endlich ihre Ruhe – nach 17 Jahren Zwangsehe.

Verzeihen, um weiterleben zu können

Ahsen sagt heute, sie habe mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen, Frieden gefunden. Sogar ihren Eltern, die sie mit 14 zwangsverheiratet haben, hat sie verziehen: "Meine Mutter ist 1997 an Krebs erkrankt." Am Sterbebett richtet sie ihre letzten Worte an Ahsen: "Verzeih mir bitte", fleht sie Ahsen an. "Verzeih mir." Und Ahsen verzeiht ihr. "Ich muss verzeihen, für mich, sonst könnte ich nicht weiterleben."

Zu ihrer restlichen Familie hat sie trotzdem keinen Kontakt mehr. Ihre Kraft schöpft sie aus der Religion: "Früher habe ich gedacht, dass das mein Schicksal ist, dass ich mit diesem Mann zusammenbleiben muss. Heute weiß ich: Allah hat mich erschaffen, nicht er." Ahsen und ihre Kinder waren auch in psychologischer Betreuung.

Nein sagen können

Ihr ist es wichtig, dass ihre vier Töchter – ihr Sohn ist bei einem Unfall ums Leben gekommen – studieren. Stolz zeigt sie das Uni-Diplom ihrer ältesten Tochter. "Ich habe ihnen beigebracht, nein zu sagen, dass sie sich jederzeit von ihrem Partner scheiden lassen können, dass das keine Schande ist und dass Bildung das Wichtigste ist, das macht unabhängig", sagt Ahsen. "Bei der Sponsionsfeier hat meine Tochter gesagt 'Das ist für Mama'", erzählt Ahsen stolz.

Sie hätte damals auch gerne die Schule abgeschlossen, vielleicht sogar wie ihre Töchter studiert. "Ich war doch noch ein Kind", sagt Ahsen und dann weint sie doch. (Melisa Erkurt, 17.1.2019)