Ich muss als Rechtsanwalt die Rechte meiner Partei mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit vertreten. So bestimmt es Paragraf 9 der Rechtsanwaltsordnung, der als Beschränkung des anwaltlichen Auftrags das Gewissen und das Gesetz vorsieht. Wie immer, wenn bedeutungsschwere Begriffe das gewünschte Verhalten bestimmen, hinkt die Wirklichkeit dem Ideal hinterher. Kategorien wie Sympathie, Gewinnstreben oder politische Überzeugung spielen in der Praxis für den Erfolg der anwaltlichen Arbeit wohl eine größere Rolle als Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit. Aber dass das Gewissen, auch ein schlechtes, dennoch für die Vertretung hilfreich sein kann, habe ich in den letzten Wochen erfahren.

Der erste Anruf bezüglich der möglichen Übernahme einer Vertretung klang verwirrend und ließ die Rechtsfragen noch nicht genau erkennen: Ihre betagte Mutter sei australische Staatsbürgerin, vor kurzem aus Slowenien in ein Wiener Pflegeheim gezogen, beziehe eine österreichische Pension, könne aber nicht krankenversichert werden, weil die Pensionsversicherungsanstalt einen Aufenthaltstitel verlange, teilte die leicht verzweifelte Tochter mit. Das sozialversicherungsrechtliche Problem hätte ich ohnehin nicht übernommen, und eine Beschleunigung bei der Erteilung des Aufenthaltstitels war eher unwahrscheinlich, sodass eine Vertretung wenig sinnvoll erschien.

Ohne Groll, aber in Sorge über den österreichischen Umgang mit Flüchtlingen: Gerda Fras hat das Schicksal, zur Flucht gezwungen zu werden, am eigenen Leib erlebt.
Foto: Heribert Corn

Instinktiv dachte ich dennoch, vielleicht helfen zu können. Wenige Tage vor der Anfrage hatte ein Richter seine Entscheidung in einem anderen Verfahren damit begründet, dass man "eine 88-jährige alleinstehende Frau nicht abschiebt". Solange es Richter gibt, die das Gesetz zugunsten der Schwachen auslegen, weil sie verstehen, dass die so gern zitierte Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch diese Personen gar nicht möglich ist, kann ein Rechtsanwalt mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit auch bei scheinbarer Aussichtslosigkeit einiges erreichen. Und wenn eine 88-jährige Frau nicht abgeschoben werden darf, warum sollte dann nicht auch eine 86-jährige Frau einen Aufenthaltstitel erhalten, um ihre Pension zu genießen und im Pflegeheim leben zu können? Die Anruferin sollte daher den Sachverhalt kurz schriftlich darlegen, wir würden uns zeitnah melden.

Kurz darauf kam eine Mail. Darin wurde ein in wesentlichen Punkten anders gelagerter Sachverhalt beschrieben: Frau Gerda Fras war 1938 als Siebenjährige mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Österreich geflüchtet und über Italien nach Australien gelangt. Ihr Vater war Jude. Erst war er nach Dachau gebracht worden, dann vorübergehend nach Wien zurückgekehrt, wo er gezwungen wurde, sein gesamtes Vermögen weit unter dessen Wert zu verkaufen. Er traf seine nach Kroatien geflüchtete Familie in Genua und verließ mit ihr Europa. Während der Schiffsreise ans andere Ende der Welt brach in Europa der Zweite Weltkrieg aus. In Jakarta musste die Familie um die Weiterreise zittern, weil sie das für die Einreise nach Australien verlangte Landegeld nicht mehr aufbringen konnte. Ein anderer Flüchtling half aus und ermöglichte die Reise in den sprichwörtlichen sicheren Hafen. In Australien musste sich der Vater von Gerda Fras wöchentlich bei der Polizeidienststelle melden. Er begann zu arbeiten und erhielt 1945 die Staatsbürgerschaft, ebenso wie seine Frau, sein Sohn und seine mittlerweile 14-jährige Tochter.

Überraschende Lösung

Der Bruder von Gerda Fras hatte bereits im Jahr 2004 die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Ein Gutachten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands bestätigte, dass die Familie zur Flucht gezwungen worden war und in derartigen Fällen die Freiwilligkeit des Erwerbs einer neuen Staatsbürgerschaft nicht angenommen werden kann. Unter diesen Voraussetzungen wird die österreichische Staatsbürgerschaft auf vereinfachte Weise, nämlich durch bloße Anzeige bei der zuständigen Behörde, erworben.

Der scheinbar verzwickte Fall löste sich auf überraschende Weise: Die Anzeige, die zum Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft führt, wurde am Tag nach dem 87. Geburtstag meiner Klientin eingebracht. Dadurch wurde sie österreichische Staatsbürgerin. Die vordergründig rasche Lösung des Rechtsproblems ermöglichte den freien Blick auf eine Lebensgeschichte, die mich zunehmend faszinierte.

Während ich mir für Vertretungen in Asylverfahren zum eigenen Schutz angewöhnt hatte, Schilderungen von nichtfluchtrelevanten Umständen weitgehend auszuklammern, weckte die Durchsicht der Unterlagen über die Vorfälle im Jahr 1938 neuerlich mein Interesse an dem Unvorstellbaren. Dieses Unvorstellbare betraf durch die Auseinandersetzung mit dem Schicksal meiner Mandantin plötzlich nicht mehr allgemein nur "die SSler" oder "die Vertriebenen", sondern bestimmte das Leben einer nach 80 Jahren wieder hier unter den Nachkommen der Täter lebenden Frau. Die Kenntnis eines Einzelschicksals hat mich meiner eigenen Geschichte einen großen Schritt nähergebracht.

"Warum soll eine 86-Jährige keinen Aufenthaltstitel erhalten?"
Foto: Heribert Corn

Ich staunte also über eine Geburtsurkunde aus dem Jahr 1931 und einen Heimatschein aus dem Jahr 1938, las die Zustimmung der britischen Botschaft für die Erteilung der für die Einreise nach Australien erforderlichen Visa, spürte meine Wut über die Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamts, das gegen die Ausreise keine Bedenken hatte, und stellte mir beim Lesen der Urkunde über die Verleihung der australischen Staatsbürgerschaft im April 1945 die Freude der Familie am anderen Ende der Welt vor, wo sie in Sicherheit die Nachrichten über den Krieg und die Verbrechen im Namen des Rassenwahnsinns las und hörte. Es ist für einen Rechtsanwalt manchmal unvermeidlich, nähere Einblicke in das Privatleben von Klienten zu erhalten. Personenstandsurkunden sind Teil der Identität jedes Menschen. Wenn ich sie prüfe oder im Verfahren verwende, habe ich oft das Bedürfnis, meine Verschwiegenheitsverpflichtung besonders ernst zu nehmen.

Zum Nachdenken gebracht

Die Prüfung der Unterlagen von Gerda Fras hat mich in das Jahr 1938 versetzt und zwangsläufig zum wiederholten Nachdenken über die eigene Familiengeschichte gebracht. In der bewährten und letztlich so unerträglichen österreichischen Art der Bewältigung haben sich auch beide Familien meiner Eltern für die Schweigevariante entschieden. Die Kriegsgeneration hat über ihre Erfahrungen nicht gesprochen, ihre Kinder haben gelernt, nicht danach zu fragen, und wir Enkelkinder haben unser Interesse auf allgemein historische Fragen gelenkt.

In anderen Familien wurde das Verhalten der Kriegsgeneration heftig verteidigt, die eigene Rolle kleingeredet und mit Empörung die Ablehnung einer Kollektivschuld begründet. Damit wird die Selbstverständlichkeit bestätigt, dass nur eine Einzelschuld relevant sein kann, die jedoch nicht anerkannt wird, weil jeder Einzelne nur seine Pflicht erfüllt hat und andere für die Verbrechen verantwortlich waren.

Diese anderen behaupten dasselbe von sich, sodass am Ende keine Einzelschuld festgestellt werden kann und die begangenen Verbrechen unbestraft bleiben. Das ständige Reden von diesen Zeiten müsse überhaupt einmal ein Ende haben. Ein Ende? Geschichte lässt sich nicht beenden, und wenn Kinder von ihren Eltern und Großeltern keine Antworten erhalten, suchen sie sie woanders. Meine Großväter waren überzeugte Nationalsozialisten, nicht bedeutend, aber bedeutend genug, dass beide die Kriegsjahre nicht an der Front verbringen mussten, sondern der eine in Berlin, der andere als Bürgermeister einer kleinen Kärntner Gemeinde, was nach Kriegsende zu seiner Inhaftierung und einem vorübergehenden Berufsverbot führte.

Unbestrafte Verbrechen

Ich kann nicht sagen, ab welchem Alter ich als Kind die politischen Gespräche zu Hause bewusst verfolgt habe, kann mich aber an ein Unwohlsein erinnern, wenn wieder über "die Slowenen", "die Juden" oder "die Kommunisten" hergezogen wurde. Selbst wenn manche Ansichten nicht mehr geäußert werden durften, war spürbar, dass man überzeugt an ihnen festhielt. Wenn das Kind die von den Eltern vermittelten Werte ablehnt, entsteht Distanz. Mit wurde als Kind der Antisemitismus eingeimpft, aber da waren keine Juden in Klagenfurt, und ich verstand nicht, warum ich Menschen ablehnen sollte, die ich nicht kannte. Warum ich jenen vertrauen sollte, die mir einreden wollten, dass diese Ablehnung richtig sei.

"Frau Fras ist seit ihrer Geburt österreichische Staatsbürgerin."
Foto: Heribert Corn

Ich hatte das Glück guter und engagierter Lehrer, die in meiner Klasse die Bedeutung differenzierter Betrachtungen vermittelten. So konnte ich gar nicht anders, als ein überzeugter Gutmensch zu werden. Das Abqualifizieren meiner Haltung empfinde ich zunehmend als bedrohlich. Wohin führt die Reise, wenn die Schlechtmenschen ihr Gesellschaftsbild umsetzen? Ich will mich nicht wundern, was alles noch möglich ist.

Ist Gerda Fras auch ein hoffnungsloser Gutmensch, wenn sie ohne Groll von ihrer Rückkehr nach Österreich und ihren Sorgen über den Umgang mit Flüchtlingen 80 Jahre nach der eigenen Flucht erzählt, die ihrer Familie und ihr das Leben rettete? Sie müsste ihr Feindbild im Unterschied zu den erfolgreichen Verhetzern und Verführern nicht konstruieren. Aber sie ist weit davon entfernt, den Vorwurf der Einzel- oder Kollektivschuld zu erheben, und unterstützt lieber ihre Tochter bei deren Arbeit als Flüchtlingsbetreuerin. Ihr zuzuhören macht deutlich, dass es eine Kollektivverantwortung gibt, die Geschichte nicht umzuschreiben und nötige Lehren zu ziehen.

Gerechtigkeit

Das Grab eines meiner Großväter liegt gegenüber dem Grab der Klagenfurterin Ingeborg Bachmann, die dem Menschen die Wahrheit zumuten wollte. Die Wahrheit ist aber nicht nur zumutbar. Wir sind sie uns und unseren Kindern schuldig. Sie ist eine Kollektivschuld, nicht im Sinne eines Vorwurfs, vielmehr als Verpflichtung. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Gerda Fras ist daher weder Wiedergutmachung noch ein Akt der Großzügigkeit. Das Staatsbürgerschaftsgesetz erfüllt seine ureigenste Aufgabe von Gesetzen, nämlich Gerechtigkeit herzustellen. Der unscheinbare Paragraf 58c des Staatsbürgerschaftsgesetzes stellt nur den Verlauf der Geschichte richtig und beseitigt Unrecht. Frau Fras ist seit ihrer Geburt im November 1931 österreichische Staatsbürgerin. Australien ist für die Aufnahme der Flüchtlingsfamilie vor 80 Jahren Dank auszusprechen, die Beibehaltung der australischen Staatsbürgerschaft eine Selbstverständlichkeit.

Ich weiß nicht, ob ich aufgrund meiner starken emotionalen Beteiligung das Mandat von Frau Fras noch mit Treue, Eifer und Gewissenhaftigkeit ausüben konnte. Es ist mir auch egal, weil sich richtiges Verhalten nicht nur am Gesetzeswortlaut orientieren kann. Insofern ist Paragraf 9 RAO, der das Gesetz und das Gewissen als Leitlinien der anwaltlichen Tätigkeit vorsieht, eine besondere Herausforderung in Fällen, in denen das eigene Gewissen und das Gesetz in Widerspruch stehen. Für die Vertretung von Frau Fras kamen noch im Gesetz nicht vorgesehene Motivationen dazu: die Bewunderung für ihre lebensbejahende Einstellung, die Dankbarkeit für ihr Vertrauen. Ihr Vertrauen, mich zu beauftragen, ihr Vertrauen, mir aus ihrem Leben zu erzählen. (Wilfried Embacher, Album, 19.1.2019)