Distinguierte Damen im Pelzmantel, aufgebrachte Gewerkschafter, Lehrerinnen mit ihren schüchternen Töchtern, Schrifstellerinnen und Wissenschafter, Oppositionspolitiker aller Couleur, Schüler und Studenten, Arbeiter in Gelbwesten – unterschiedlicher hätten die Menschen kaum sein können, die sich am Wochenende am Donauufer in Budapest zum friedlichen, aber bestimmten Protest gegen die ungarische Regierung einfanden. Ihr Motto schrieben sie auf ein Transparent: "Wir haben genug!"

In Sichtweite von Ministerpräsident Viktor Orbáns nagelneuem Amtssitz auf dem Burgberg demonstrierten sie zwischen Ketten- und Elisabethbrücke gegen das sogenannte Sklavengesetz. Dieses hatte die Regierung vor Weihnachten im Parlament beschließen lassen. Mit dieser unternehmerfreundlichen Regelung soll jeder ungarische Arbeitnehmer zu 400 Überstunden pro Jahr verpflichtet werden können, die ihm erst drei Jahre später ausgezahlt werden müssen – falls sie in diesem Zeitraum bei weniger Arbeit nicht gegengerechnet werden.

Bei der Demonstration in Budapest sprachen die Teilnehmer von einer Aufbruchstimmung. Der Organisator, Viktor Mak, erwartet weitere Proteste in den nächsten Wochen. Deutsche Untertitel können über das Text-Symbol angewählt werden.
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Korruption und Oligarchen

Vielen der Teilnehmer ging es aber auch um andere Themen, die im Ungarn des 2018 zum zweiten Mal wiedergewählten Orbán ihrer Ansicht nach im Argen liegen. Das praktische Verschwinden der freien Presse wurde beklagt, Korruption und der Zugriff von Oligarchen aus Orbáns Klüngel auf de facto die gesamte Wirtschaft des Landes, der von Regierungsseite geschürte Antisemitismus und die Hetze gegen Flüchtlinge.

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Demonstranten und Polizisten standen einander am Wochenende an der Kettenbrücke in Budapest – friedlich – gegenüber.
Foto: Reuters/Szabo

Viktor Mak, einer der Organisatoren der Demo in Budapest, sagte dem STANDARD: "Heute gibt es Proteste an etwa 60 Orten im In- und Ausland gegen die Regierung." Das ist insofern neu, weil sich üblicherweise – zuletzt etwa bei den Demos für den Verbleib der Central European University und gegen eine geplante Internetsteuer – die Kundgebungen auf Budapest beschränkten und nicht wochenlang andauerten. In seltener Einheit präsentieren sich diesmal auch die notorisch zerstrittene ungarische Opposition und die Gewerkschaften, die auf Demos setzen, weil das Streikrecht von der amtierenden Regierung ausgehöhlt wurde.

Straßenblockaden

So nahmen etwa auch in der südungarischen Kleinstadt Szekszárd (150 Kilometer südlich von Budapest) 200 Menschen in rund 80 Fahrzeugen an einer Straßenblockade teil. In einem von einem Polizeiauto angeführten Konvoi ging es auf einer Umfahrungsstraße an den südlichen Stadtrand. Dort blockierten die Fahrzeuge eine Spur der Nationalstraße 56, die nach Kroatien führt.

Die Teilnehmer waren vor allem Gewerkschafter, Aktivisten und Anhänger der Oppositionsparteien und einige wenige ungebundene Bürger. "Wir sind gegen das Überstundengesetz, weil wir wollen, dass die Kollegen mit dem regulären Acht-Stunden-Tag mehr Geld verdienen", sagt László Lörincz (54) von der Gewerkschaft der Werktätigen des AKW Paks (PADOSZ). Das AKW liegt etwa 30 Kilometer von Szekszárd entfernt. Infolge einer einsamen Entscheidung, die Orbán mit Kremlherrn Wladimir Putin traf, soll das AKW in den nächsten Jahren einen neuen Reaktorblock aus russischer Fertigung erhalten. Der Ausbau ist nicht nur aus ökologischen Gründen umstritten, sondern auch wegen seiner Finanzierung durch ungünstige russische Kredite.

Sind die landesweiten Aktionen Zeichen für einen Stimmungsumschwung und können sie die Macht von Orbáns Regierungspartei Fidesz gefährden?

István Hegedus über Orbán, Fidesz und die Stimmung in Ungarn.
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Viele Orbán-Witze

István Hegedus, ein frühere Weggefährte des Mnisterpräsidenten und ehemaliger Parlamentsabgeodneter der Fidesz, der heute der Ungarischen Europagesellschaft vorsteht, glaubt das im STANDARD-Gespräch vorerst noch nicht. Allerdings: "Viele sehen Orbán heute nicht mehr als genialen Politiker. Es gibt ziemlich brutale Witze über Orbán. Und das ist ziemlich gefährlich für einen Mann, der autoritär auftreten möchte." Mehr und mehr Leute dächten, dass die Richtung, die das Land nehme, nicht stimme. Die Opposition habe bei den Europawahlen und vor allem bei den Kommunalwahlen im Herbst besser Chancen als in Jahren zuvor.

Péter Ákos Bod schätzt die wirtschaftliche Lage Ungarns ein.
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Auch Péter Ákos Bod, Wirtschaftsprofessor an der Corvinus-Universität und in den 1990er Jahren Notenbankpräsident in Budapest, sagt dem STANDARD, dass er eher eine Ernüchterung als eine substanzielle Wechselstimmung sehe. Das hänge auch mit dem Status der Wirtschaft zusammen: "Die makroökonomischen Zahlen sind scheinbar gut, aber in den öffentlichen Krankenhäusern gibt es kein Toilettenpapier." Die Förderungen der EU seien nicht immer hilfreich, weil sie eine enorme Korruption entfacht hätten. Viele im Umfeld des Ministerpräsidenten räumten sich die Taschen voll, die meisten Ungarn dagegen schauten durch die Finger. Transparency International führt Ungarn auf dem Korruptionsindex auf Platz 66 – hinter Sao Tome und Principe. (20.1.2019)