Auch auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas hat Google seine "Lieferkette" ausgebaut.

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Firmen wie Google und Facebook bieten viele ihrer Dienste ohne Geldleistung an. Egal, ob man Informationen im Netz sucht, einen Webmail-Account pflegt oder sich weltweit mit anderen Menschen vernetzt. Im Gegenzug akzeptiert man Werbung, die auf die eigenen Interessen zugeschnitten sein soll.

Doch dieser "Deal" kratzt nur an der Oberfläche eines neuen Zeitalters, dass die renommierte Harvard-Wirtschaftsexperin Shoshana Zuboff angebrochen sieht. Der digitale Wandel zu einer vernetzten Welt hat ihrer Meinung nach auch eine neue Wirtschaftsform geboren: Den Überwachungskapitalismus. In ihrem neuen Buch "The Age of Surveillance Capitalism" (Deutsch: "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus") stellt sie ihre Theorie vor.

Voraussageprodukte

Der Guardian fasst sie so zusammen: Milliarden Menschen verwenden diverse kostenlose Angebote im Netz und geben dafür Informationen Preis. Oft werden diese Informationen in großem Umfang erfasst, ohne dass man dem explizit zugestimmt hätte. Ein Teil davon fließt tatsächlich in die Verbesserung der damit finanzierten Dienste.

Der "Überschuss" allerdings wird mithilfe von "Maschinenintelligenz" zu Produkten gemacht, die versuchen, vorauszusagen, was wir demnächst oder in fernerer Zukunft tun werden. Diese Produkte werden wiederum in einem eigenen Marktplatz gehandelt. Sie haben ihre Erfinder reich und mächtig gemacht. Die menschliche Erfahrung ist zu einem frei zugänglichen Rohmaterial für Daten geworden, die längst die eigentliche Währung im Silicon Valley sind.

Verzeihung besser als Erlaubnis

Auf der Suche nach neuen Diensten, die sich gegen Daten vermarkten lassen, würden die Firmen auch rücksichtslos vorgehen. Statt zu fragen wird gemacht, zumindest bis die Politik interveniert. Als Beispiel sind Googles Initiative zur Digitalisierung aller Bücher oder Google Maps Streetview mit den Fotos von Straßen und Häusern angeführt. Zuboff sieht Google auch als eigentlichen Erfinder des Überwachungskapitalismus an. Das Beispiel hat Schule gemacht. Das Mantra lautet: Es ist einfacher, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen.

Das digitale Pendant zu staatlicher Überwachung unterteilt die Menschen in zwei Gruppen: Die Beobachter und die Beobachteten. Doch während in demokratischen Staaten üblicherweise eine mehr oder weniger ausgeprägte, politische Kontrolle der Überwacher möglich ist, agieren sie in der kapitalistischen Ausprägung anonym und fernab jeglicher direkten Verantwortung.

"Smarte" Lieferkette

Eine Selbstregulierung durch die IT-Firmen hält Zuboff nicht für sinnvoll. Denn mit Forderungen nach mehr Verantwortung und Datenschutz würde man existenzielle Drohungen gegenüber diesen Firmen und ihrem Geschäftsmodell aussprechen.

Der Überwachungskapitalismus hat sich mittlerweile längst über das Feld der Werbung hinaus auf viele Branchen ausgebreitet. Mittlerweile, so Zuboff, ist fast jedes Gerät und Service, das "personalisiert" oder "smart" ist ein Teil der Zulieferkette für die Erzeugung von Produkten, die unsere Handlungen und Interessen voraussagen sollen. Nicht ganz zufällig haben die großen Techfirmen fast so etwas wie ein Monopol auf Datenwissenschaften und Maschinenlernen.

Die Tragik der "Digital Natives"

Die Bezeichnung "Digital Natives" ("Digitale Eingeborene") für die ersten Generationen an Usern, die sich als Heranwachsende das Internet erschlossen, ist mittlerweile zu einem "tragisch-ironischen" Begriff geworden. Das Muster der spanischen Eroberungen ist laut Zuboff jenem der IT-Riesen nicht unähnlich. Wo einst Land einfach so im Namen der spanischen Krone annektiert wurde und mit Siedlungen Fakten geschaffen wurden, nahm Google einst mit seiner Suchmaschine praktisch das ganze Internet in Beschlag und erweiterte dies auf unsere Daten.

Dabei seien wir genauso überrascht worden, wie einst die indigenen Bewohner Lateinamerikas. Wo einst die Nutzer Googles Index nach Informationen im Netz durchsuchten, durchsucht nun Google seine Nutzer.

Rettung möglich

Der nächste Schritt sei es nun, nicht mehr nur die Informationsverarbeitung, sondern die Nutzer selbst zu automatisieren. Mit genug Daten sei es möglich, Anreize dafür zu setzen, dass ein User so handelt, wie gewünscht. Für die Demokratie stellt das natürlich eine ernste Herausforderung dar.

Nachdem der Überwachungskapitalismus sich zwei Jahrzehnte lang weitestgehend unbeschränkt entfalten konnte, ist es nach Ansicht der Autorin längst Zeit, die Macht dieser Konzerne einzuschränken. Auch wenn die Lage schwierig und komplex ist, ist es nicht zu spät. Entwicklungen wie der Beschluss der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in der EU böten bereits ein Fundament, auf dem man aufbauen könne, um ein neues Paradigma für den Kapitalismus im Informationszeitalter zu schaffen. (red, 21.1.2018)