Sabine Hossenfelder ist Forscherin am Frankfurt Institute of Advanced Studies.

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Sabine Hossenfelder: "Das hässliche Universum – Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt", € 22,70 / 368 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018

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Keine Frage, die theoretische Physik ist ein faszinierendes Betätigungsfeld. Von "Woher kommen wir?" bis "Woraus besteht das Universum?" gibt es kaum eine Frage, die ihr zu groß ist. Um darauf Antworten zu finden, schrecken theoretische Physiker bisweilen auch nicht vor wildesten Spekulationen zurück. Da wäre zum Beispiel die These, dass es eine unendliche Anzahl an Universen gibt, genannt Multiversum. Oder die Supersymmetrie, wonach für jedes Teilchen ein Superpartner existiert. Die Stringtheorie postuliert wiederum, dass das Universum auf fundamentalster Ebene aus winzigen vibrierenden Fäden besteht.

So unterschiedlich diese Theorien auch sind, was sie eint, ist, dass empirische Belege fehlen. Die Physiker können sich daher in der Theorieentwicklung nur auf ihre Intuition verlassen. Dabei kommen auch nicht ganz streng wissenschaftliche Kriterien zum Tragen, wie jenes, dass eine Theorie ansprechend sein sollte.

Dieses Streben nach Schönheit hat sich etwa bei der allgemeinen Relativitätstheorie als brauchbares Leitprinzip erwiesen, ebenso bei der Entwicklung des Standardmodells der Teilchenphysik. Doch in den vergangenen vier Jahrzehnten hat die Suche nach Schönheit einen beträchtlichen Teil der Grundlagenforschung in der Physik in die Sackgasse getrieben. Das behauptet jedenfalls die theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder in ihrem Buch "Das hässliche Universum" (S. Fischer, 2018).

Hossenfelder holt dabei zu einem Rundumschlag gegen ihren eigenen Forschungsbereich aus: Die Physiker würden ihr Geld damit verdienen, "wahnwitzige Theorien auszubrüten, die höchst umstritten sind", lautet ihr Urteil. Diese seien "spekulativ, aber faszinierend; schön, aber nutzlos". Aus Hossenfelders grundlegender Kritik ergeben sich weitreichende Konsequenzen dafür, wie und was in der Physik erforscht werden sollte – und was nicht.

Sabine Hossenfelder spricht über die Vor- und Nachteile der Stringtheorie.
Sabine Hossenfelder

STANDARD: Sie zeigen sich in Ihrem Buch enttäuscht über die aktuelle Situation in der Grundlagenforschung der Physik. Was macht Sie so mutlos?

Hossenfelder: In den Grundlagen der Physik hat sich in der Theorieentwicklung in den vergangenen 40 Jahren nicht viel getan. Die Theorien, die wir heute benutzen, sind immer noch dieselben wie in den 1970er-Jahren. Die theoretischen Physiker produzieren ohne Ende immer neue Theorien. Aber das funktioniert einfach nicht. Doch statt dass man daraus lernt und versucht, andere Methoden zu verwenden, macht man dasselbe immer wieder.

STANDARD: Wie kommt es dazu?

Hossenfelder: Es ist interessant, dass sich in den Grundlagen der Physik sehr engstirnige Schönheitsideale eingebürgert haben. Das wichtigste Kriterium dabei ist die Einfachheit. Die Theorien, die wir im Moment haben, sind den Physikern nicht einfach genug. Beispielsweise gibt es in der Teilchenphysik drei verschiedene Grundkräfte. Es wäre einfacher, wenn es nur eine gäbe. Daher suchen Physiker nach der großen Vereinheitlichung, die als schön angesehen wird. Es könnte natürlich sein, dass wir diese irgendwann finden, und ich gebe zu, das wäre durchaus schön. Doch momentan gibt es keinen guten Grund, warum das so sein sollte.

STANDARD: Ein weiteres Schönheitskriterium, das Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist die sogenannte Natürlichkeit. Was muss erfüllt sein, damit eine Theorie als natürlich gilt?

Hossenfelder: Dabei geht es darum, dass Zahlen, die in Theorien auftauchen, weder sehr klein noch sehr groß sein dürfen. Das ist nur dann erlaubt, wenn es eine Erklärung dafür gibt, sonst gilt die Theorie als unnatürlich. Ein Beispiel dafür ist eine Zahl, die im Zusammenhang mit der Masse des Higgs-Teilchens auftritt, die sehr klein ist. Sie liegt im Bereich von 10^-15. Das wird als hässlich angesehen, deswegen suchen Physiker verzweifelt nach einer Erklärung. Dabei haben sie sich jede Menge neue Effekte ausgedacht. Diese hätte der Large Hadron Collider am Kernforschungszentrum Cern aber längst sehen sollen. Doch das ist nicht passiert.

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Der Large Hadron Collider am Kernforschungszentrum Cern in Genf ermöglichte 2012 die Entdeckung des Higgs-Teilchens. Ob ein noch größerer Beschleuniger neue, fundamentale Erkenntnisse bringen könnte, bezweifelt die theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder.
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STANDARD: Welche Konsequenzen müssten daraus für Forschungsinstitutionen wie das Cern gezogen werden? Lohnt es sich, immer größere Beschleuniger zu bauen, wenn es nicht sicher ist, ob damit noch etwas Neues gefunden werden kann?

Hossenfelder: Das ist eine sehr schwierige Frage. Es geht ja nicht nur darum, ob man Geld in Beschleuniger stecken soll, sondern auch darum, ob es andere Experimente gibt, in die wir investieren sollten. Wenn wir über den nächsten Collider sprechen, geht es um Geldbeträge im Bereich von zehn Milliarden Euro. Um die Frage zu klären, wie wir einen solchen Betrag am besten investieren können, spielt es schon eine Rolle, dass wir mit einem noch größeren Beschleuniger nicht unbedingt noch etwas Neues finden werden – jedenfalls gibt es derzeit keinen guten Grund dafür.

STANDARD: Welche Forschungsbereiche der Physik sind Ihrer Meinung nach aussichtsreicher, um neue Erkenntnisse zu erzielen?

Hossenfelder: Bei Dunkler Materie hätten wir, denke ich, bessere Chancen, etwas Neues zu finden. Da wissen wir wenigstens, dass es da wirklich etwas gibt. Mit neuen Teleskopen könnten wir noch mehr Beobachtungen zu Dunkler Materie machen. Es gibt auch eine ganze Reihe kleinerer Experimente, bei denen man sich nicht im Bereich von Milliarden, sondern nur von ein paar Millionen bewegt. Doch für die ist dann oft kein Geld mehr da, weil alles von den Großprojekten aufgefressen worden ist.

STANDARD: Wie kommt es dazu?

Hossenfelder: Man hat es einfacher, wenn man einer großen Community angehört, wie etwa der Teilchen- oder der Kernphysik. Wenn es so große, selbstsichere Gruppen gibt, ist es schwierig, die Forschungsvorhaben noch objektiv zu beurteilen. Ich denke, es wäre aussichtsreicher, in kleinere Experimente zu Dunkler Materie zu investieren, anstatt den nächsten großen Beschleuniger zu bauen. Ich muss aber dazusagen, dass das nur meine Meinung ist, andere Leute denken vielleicht anders.

STANDARD: Wie reagieren Ihre Kollegen auf Ihre Kritik?

Hossenfelder: Ich habe von den Leuten aus den Forschungsgebieten, über die ich schreibe, absolut nichts gehört – da herrscht komplette Funkstille. Man versucht dort, mich vollkommen zu ignorieren. Das geschieht in der Hoffnung, einfach so weiterzumachen, wie man es seit 40 Jahren tut.

Trailer für das Buch "Lost in Math" ("Das hässliche Universum") von Sabine Hossenfelder.
Sabine Hossenfelder

STANDARD: Woher rührt der Widerstand dagegen, grundlegende Dinge zu ändern?

Hossenfelder: Die Physiker haben sich eine bequeme Umgebung geschaffen, in der sie auf leichte Art und Weise viele Veröffentlichungen produzieren können. Man bastelt sich die Mathematik so zusammen, dass man die Resultate rasch veröffentlichen kann. Es gibt zwar gewisse Qualitätsstandards, aber die sind meiner Ansicht nach vollkommen unzureichend. Das ist der Grund, warum in Fachzeitschriften auch jede Menge Blödsinn veröffentlicht wird – man kann es leicht veröffentlichen. Wenn neue QualitätsStandards eingeführt werden, würde das Publizieren wesentlich schwieriger werden. Das möchte natürlich keiner.

STANDARD: Haben Sie auch Vorschläge, was die Community in der jetzigen Situation tun sollte?

Hossenfelder: Ich denke, die Physiker sollten sich jetzt einmal hinsetzen und nachdenken, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist, und aus diesen Fehlern lernen. Im Moment passiert das Gegenteil: Man denkt sich immer neue Argumente von Natürlichkeit aus, mit denen man begründen kann, warum man einen noch größeren Beschleuniger braucht. Ich habe die Hoffnung verloren, dass sich die Community der Physiker noch selbst korrigieren kann.

STANDARD: Wagen wir trotz dieser pessimistischen Prognose einen Blick in die Zukunft: Wie könnte sich die Rolle von Physikern ändern, wenn verstärkt künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt?

Hossenfelder: Wenn Daten vorhanden sind, können neuronale Netzwerke dafür eingesetzt werden, aus diesen Daten eine Theorie zu generieren. Ich denke, man würde die Theorieentwicklung dadurch auf eine neue Ebene heben. Es würde sich dadurch eine Art Metatheorie entwickeln. Das könnte uns die Möglichkeit bieten, einige der jetzigen Probleme zu umgehen, etwa werden die Schönheitsideale in der Physik irrelevant, wenn eine künstliche Intelligenz eine neue Theorie ausspuckt.

STANDARD: Ihr Buch endet damit, dass Sie den Zuschlag für ein neues Forschungsprojekt erhalten haben – woran arbeiten Sie nun?

Hossenfelder: Jetzt muss ich überlegen, wie ich das höflich sage. Ich habe lange Jahre versucht, Geld für Themen zu bekommen, von denen ich denke, dass sie vielversprechend sind. Das ging absolut nicht, all meine Anträge sind abgelehnt worden. Schließlich habe ich mich entschlossen, Geld für genau dasselbe zu beantragen, was alle anderen auch machen. Das ist bewilligt worden. In meinem jetzigen Projekt geht es um die Beschreibung gewisser Flüssigkeiten und darum, was ihr Verhalten mit der Gravitation zu tun hat. Dieses Forschungsfeld nennt sich analoge Gravitation. Vorher habe ich viel zu Quantengravitation gearbeitet, das war reine Mathematik. Jetzt freue ich mich, dass ich einmal mit ganz echten Dingen zu tun habe. Es ist in diesem Sinne ein interessantes Thema, aber die großen Durchbrüche macht man damit nicht. Der Grund, warum ich daran arbeite, ist, dass ich dafür Geld bekommen konnte. (Tanja Traxler, 27.1.2019)