Caracas/Pueblá – Nach dem offen entbrannten Machtkampf zwischen der sozialistischen Regierung und der bürgerlichen Opposition hat sich die Lage in Venezuela in der Nacht zum Donnerstag zugespitzt. In vielen Vierteln der Hauptstadt Caracas und anderen Städten gingen zahlreiche Menschen auf die Straße und errichteten Barrikaden. Auf dem Bürgerreporter-Portal "Reporte Ya" posteten zahlreiche Venezolaner Videos und Fotos, auf denen die Nationalgarde gemeinsam mit Schlägertruppen gegen Oppositionelle vorging und dabei auch Schusswaffen einsetzte. Der Menschenrechtsorganisation Provea zufolge wurden 18 Menschen getötet.

Zuvor hatte sich Parlamentspräsident Juan Guaidó vom Volk als Interimspräsident vereidigen lassen. "Vor dem allmächtigen Gott gelobe ich, die Kompetenzen der Exekutive als Interimspräsident von Venezuela zu übernehmen", sagte Guaidó am Mittwoch. "Lasst uns alle schwören, dass wir nicht ruhen, bis wir die Freiheit erlangt haben. Ich schwöre, offiziell die nationale Exekutivgewalt als amtierender Präsident von Venezuela zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden, eine Übergangsregierung (einzusetzen) und freie Wahlen abzuhalten", so Guaidó.

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Juan Guaidó hat sich zum Interimspräsidenten von Venezuela ausgerufen. In der Hand hält er eine Kopie der Verfassung.
Foto: REUTERS/Carlos Garcia Rawlins

Kurz zuvor hatte das von der Regierung kontrollierte Oberste Gericht einen solchen Schritt als verfassungswidrig bezeichnet und der Staatsanwaltschaft angeordnet, gegen solche Usurpatoren vorzugehen. Doch die Unterstützerbasis Maduros ist weggebrochen: An einer gleichzeitig von der Regierung einberufenen Kundgebung nahmen Fernsehbildern zufolge nur einige hundert Menschen teil. Das Militär forderte Maduro dazu auf, Einheit und Disziplin zu wahren. "Wir werden über all dies triumphieren, wir werden als Sieger hervorgehen", erklärt er vor Anhängern vor seinem Präsidentenpalast in Caracas.

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Maduro gab sich kämpferisch.
Foto: REUTERS

Anerkennung durch zahlreiche Staaten

US-Präsident Donald Trump, Kanada sowie zahlreiche lateinamerikanische Staaten – unter ihnen Kolumbien, Argentinien, Brasilien und Peru, nicht aber Mexiko – erkannten dennoch umgehend Guaidó als legitimen Staatschef Venezuelas an. Guaidó vertrete als Parlamentspräsident "das einzige legitime" Staatsorgan des Landes, weil er "ordnungsgemäß" vom venezolanischen Volk gewählt worden sei, hieß es am Mittwoch in einer vom Weißen Haus veröffentlichten Erklärung Trumps. Maduro kündigte danach die diplomatischen Beziehungen zu den USA auf und drohte mit einem Rauswurf der Diplomaten. Der US-Regierung zufolge hat dies keine Wirkung, da Maduro nicht mehr legitim anerkannter Staatschef sei.

Maduro warf den USA bei einer Ansprache auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Putschabsichten vor, brach die diplomatischen Beziehungen ab und ordnete die Ausweisung der Diplomaten an. "Hier gibt niemand klein bei!" rief er. "Oder wollt ihr eine von den USA gesteuerte Marionettenregierung?"

Guaidó hingegen forderte das Botschaftspersonal zum Bleiben auf. "Ich informiere alle Leiter der diplomatischen Missionen und das in Venezuela akkreditierte Personal, dass der venezolanische Staat wünscht, dass sie ihre diplomatische Präsenz in unserem Land aufrechterhalten", teilte er am Mittwoch mit. Anderslautende Anweisungen sollten ignoriert werden, hieß es in einer von Guaidó unterzeichneten Mitteilung.

Die Europäische Union erklärte, die Rufe des venezolanischen Volkes nach Demokratie dürften nicht ignoriert werden. Die Bevölkerung habe das Recht, friedlich zu demonstrieren, ihre Regierung frei zu wählen und über ihre Zukunft zu entscheiden. Bürgerrechte, Freiheit und Sicherheit von Guaidó müssten respektiert werden. Eine explizite Anerkennung Guaidós als neuen Präsidenten spricht die EU nicht aus. UN-Generalsekretär Antonio Guterres fordert die Konfliktparteien in Venezuela zu Mäßigung und Gesprächsbereitschaft auf.

Kneissl sieht "harten Machtkampf"

"In Venezuela herrscht ein harter Machtkampf, der gerade voll im Gange ist", sagte Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) am Donnerstag am Rande des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos. Kneissl antwortete auf die Frage, ob die Europäische Union damit auch – wie die USA – hinter dem Parlamentspräsidenten Juan Guaidó stehe, der sich zum Staatschef ausgerufen hat: Man anerkenne nur Staaten, denn "Regierungen kommen und gehen". Die deutsche Regierung forderte Neuwahlen.

Auf die Seite Maduros schlugen sich Kuba, Bolivien, Russland und die Türkei, mit der Maduro unlängst lukrative Bergbauverträge geschlossen hat. China, das Maduro mit Milliardenkrediten unterstützt hat, hüllte sich in Schweigen.

Sicherheitskräfte setzten am Mittwoch Tränengas gegen oppositionelle Demonstranten ein.
Foto: APA/AFP/YURI CORTEZ

Der Massenkundgebung vorangegangen waren angespannte Tage: Zu Wochenbeginn hatte eine Gruppe von Unteroffizieren und Soldaten der Nationalgarde in Caracas ein Waffenarsenal eingenommen und das Volk zum Aufstand aufgerufen. Die stümperhaft anmutende Meuterei wurde schnell niedergeschlagen, 27 Militärs wurden festgenommen. Allerdings kam es daraufhin vor allem in Caracas zu nächtlichen Unruhen, Protesten und spontanen Straßenblockaden. Seit einigen Tagen hält außerdem das in den letzten freien Wahlen 2015 gewählte, oppositionelle und von Maduro nicht anerkannte Parlament offene Bürgerversammlungen ab, auf denen die Legitimität der Regierung aberkannt wird.

Ingenieur und Studentenführer

Angeführt wird der Widerstand vom 35-jährigen Guaidó. Dem Ingenieur und ehemaligen Studentenführer ist es gelungen, der zuletzt über persönliche Eitelkeiten und Strategiefragen zerstrittenen Opposition neues Leben einzuhauchen. Anfang Jänner erklärte das Parlament laut Artikel 233 und 350 – dem Recht auf Widerstand – der Verfassung die Staatsspitze für vakant, da Maduro die letzten Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 nur durch Betrug gewonnen habe. Der 23. Jänner ist auch ein symbolisches Datum für das Land, weil an diesem Tag im Jahr 1958 der damalige venezolanische Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wurde.

Wenige Minuten nach seiner eigenmächtigen "Angelobung" zum Interimspräsidenten verschwand Guaidó auf einem Motorrad (im Bild am Rücksitz).
Foto: APA/AFP/FEDERICO PARRA

Die Opposition versucht, die in letzter Zeit zutagegetretenen Rivalitäten innerhalb der sozialistischen Führungsclique auszunützen und einen Keil zwischen die Anführer der einzelnen Fraktionen zu treiben. Guaidó hat Militärs, die sich gegen Maduro wenden, eine Amnestie versprochen. Das Militär ist die wichtigste Stütze Maduros. Zwischen ihm und dem Oberkommandierenden der Streitkräfte, Vladimir Padrino López, soll es aber Verstimmungen geben. Am Mittwoch war weder Padrino López noch ein anderer ranghoher General bei Maduros Rede mit auf der Bühne. Amt Mittwoch versicherte der Verteidigungsminister aber seine Verfassungstreue und lehnte einen "von finsteren Mächten aufgezwungenen oder selbsterklärten Präsidenten" ab.

Verteidigungsminister Padrino López will Guaidó nicht als neuen Präsidenten akzeptieren. "Die Soldaten des Vaterlandes akzeptieren keinen Präsidenten, der von dunklen Mächten eingesetzt wird oder sich abseits des Rechts selbst einsetzt. Die Streitkräfte verteidigen unsere Verfassung und sind der Garant unserer nationalen Souveränität."

Die "Washington Post" hatte unter Verweis auf Geheimdienstinformanten geschrieben, Padrino López habe Maduros Rücktritt gefordert. Der Artikel wurde von Caracas dementiert; allerdings fehlte Padrino López bei den letzten offiziellen Auftritten Maduros oder hielt sich im Hintergrund. Vor seiner Amtseinführung am 10. Jänner ließ Maduro statt das Militär die ihm treuen "colectivos" – bewaffnete, paramilitärische Milizen – defilieren. Seit Mai müssen außerdem alle Militärs ein Dokument unterschrieben, in dem sie dem Regime ihren bedingungslosen Gehorsam bezeugen.

Menschenrechtsverletzungen

In Venezuela kommt es nach Angaben der Uno und zahlreicher nationaler (Foro Penal) und internationaler (Amnesty International) Menschenrechtsorganisationen systematisch zu schweren Grundrechtsverletzungen wie außergerichtlichen Exekutionen, Folter, Verschwindenlassen und Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die USA erwägen Medienberichten zufolge eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen, die vor allem das Erdöl betreffen – das Hauptexportprodukt des Landes. Das könnte die ohnehin schon darniederliegende Wirtschaft empfindlich treffen.

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Hunderttausende Menschen folgten dem Protestaufruf der Opposition.
Foto: REUTERS/Adriana Loureiro

"Alle Optionen sind auf dem Tisch", sagte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter am Mittwoch. Das gelte ganz besonders für den Fall, sollte Maduro gegen Mitglieder des entmachteten Parlaments vorgehen.

Krisenstaat

Die Wirtschaftsleistung schrumpfte in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent, die Inflation kletterte 2018 auf 1,3 Millionen Prozent. Nahrungsmittel und Medikamente sind nur noch auf dem Schwarzmarkt oder für Regimeanhänger über Bezugsscheine zu erhalten. Der Mindestlohn reicht derzeit für zwei Kilogramm Fleisch. Dass es trotzdem nicht zu Hungerrevolten kommt, erklärt der Ökonom Manuel Sutherland der Zeitschrift "Nueva Sociedad" so: "Die Regierung überlässt Kriminellen und Schwarzmarkthändlern viele ihrer (Import-)Waren, die dann gewinnbringend weiterverkauft werden. Mit wenig Geld hat sie so ein klientelistisches Netzwerk geschaffen, das weite Teile der Bevölkerung zum Lumpenproletariat gemacht hat. Hinzu kommt, dass die Opposition in den Armenvierteln nicht präsent ist und ihre Nische in Twitter gefunden hat."

Die Demonstrationen am Mittwoch fallen exakt auf den Jahrestag des Sturzes der Militärdiktatur 1958.
Foto: APA/AFP/YURI CORTEZ

Dennoch sehen Beobachter wie der Kommentator Andrés Oppenheimer neuen Spielraum für die Opposition. Als Interimspräsident könnte Guaidó "im Ausland humanitäre Hilfe anfordern, wogegen sich Maduro sträubt. Wenn sich aber Hilfsgüter an den Grenzen stapeln, könnte dies den Volkszorn entfachen und Maduro darüber stürzen, ohne dass eine ausländische Militärintervention nötig wäre", schrieb Oppenheimer in der Zeitung "Miami Herald". (Sandra Weiss, red, APA, 24.1.2019)