STANDARD: Sind wir in Venezuela Zeugen eines Putsches geworden?

Kurtenbach: Das kommt stark darauf an, wie man Putsch definiert. Juan Guaidó und andere Oppositionspolitiker stellen sich auf den Standpunkt, dass das, was jetzt passiert ist, im Rahmen der venezolanischen Verfassung rechtens ist. Dort steht, dass der Präsident der Nationalversammlung bis zu einer Neuwahl Interimspräsident wird, wenn es keinen amtierenden Präsidenten gibt. Eigentlich gilt dies für Fälle, wenn ein Präsident stirbt. Allerdings gibt es in den westlichen Ländern und in der Sozialwissenschaft einen Konsens darüber, dass die Präsidentenwahl 2018 weder frei noch fair war, Maduros Mandat also eigentlich seit 10. Jänner keine Legitimation mehr hat. Demnach hat Guaidó das Amt zu Recht für sich reklamiert.

Juan Gaidó bei seiner Proklamation zum Interimspräsidenten.
Foto: Federico PARRA / AFP

STANDARD: Was bedeutet die fast unmittelbare Anerkennung Guaidós durch die USA?

Kurtenbach: Das weckt natürlich Erinnerungen an frühere Versuche der USA, in Venezuela Einfluss auszuüben, zuletzt während des Putschversuchs gegen die Regierung von Hugo Chávez 2002, als auch die USA die Ersten waren, die die neue Regierung anerkannten. Solche Interventionen sind für die Opposition aber nicht zwingend hilfreich, weil sie natürlich weiter polarisieren und Maduro es erlauben, sich als Opfer darzustellen. Zwar braucht die Opposition Unterstützung aus dem Ausland, wenn sie aber auf eine solche Weise und so schnell kommt, ist sie kontraproduktiv.

STANDARD: Was versprechen sich die USA von Guaidó?

Kurtenbach: Nicolás Maduro hat das Land heruntergewirtschaftet, stärker noch als damals Chávez. Er hat ein Land extrem polarisiert, das auf den größten Ölreserven zumindest der westlichen Hemisphäre sitzt. Versinkt Venezuela komplett in Chaos, hat niemand im Westen etwas davon. Eigentlich wäre es nun wichtig zu deeskalieren.

STANDARD: Donald Trump hat schon 2017 eine militärische Option gegen das Maduro-Regime dezidiert nicht ausgeschlossen. Sehen Sie eine Tendenz in Richtung Militärintervention?

Kurtenbach: Ein US-Wissenschafter hat kürzlich ein Szenario beschrieben, in dem eine neue Regierung die USA um Hilfe bitten könnte. Diese Art und Weise, Interventionen herbeizuführen, kennen wir leider aus der lateinamerikanischen Geschichte nur allzu gut. Auch dies weckt natürlich Misstrauen und trägt nicht zu der so dringend benötigten Deeskalation bei.

STANDARD: Ist es Zufall, dass dies nur Wochen nach dem Amtsantritt Jair Bolsonaros im benachbarten Brasilien passiert?

Kurtenbach: Wir sehen in Lateinamerika gerade eine große Gemengelage, wo die rechten Kräfte stark auf dem Vormarsch sind. Iván Duque in Kolumbien unterstützt diese Strömung genauso. Wir erleben im Moment ein Wiederaufleben der alten ideologischen Spaltung der 80er-Jahre. Venezuela unter Chávez war auf dem Kontinent so etwas wie der Ausgangspunkt dieser linken Gegenbewegung, schon deshalb reiben sich in der Region viele nun die Hände, dass diesem Modell der Garaus gemacht werden könnte, vorzugsweise auf dem demokratischen Weg – wenn das nicht geht, aber auch mit Gewalt.

STANDARD: Wie geschlossen steht die Armee hinter Maduro?

Kurtenbach: Das wüssten wir alle gerne. Wenig erstaunlich war, dass die Armeeführung am Donnerstag Maduro ihre Loyalität bekundet hat. Die Hälfte des Kabinetts besteht aus Militärs, die gleichzeitig die wichtigsten Wirtschaftszweige und den Drogenhandel kontrollieren. Die Frage ist, wie es auf den unteren Rängen aussieht. Der kleine Aufstand zu Beginn der Woche hat uns gezeigt, dass es dort weit kritischer aussieht und dort durchaus Bereitschaft besteht, im Fall des Falles gegen Maduro vorzugehen. Diese Leute leiden genauso unter der Versorgungskrise und der Inflation wie die Zivilbevölkerung. Guaidó hat die Armee aufgefordert, die verfassungsmäßige Ordnung zu respektieren, und all jenen Soldaten, die dem folgen, Amnestie versprochen. Das halte ich für einen cleveren Schachzug, weil es auf die Spaltung des Militärs abzielt. Ob das klappt, kann man schwer vorhersagen.

STANDARD: Gibt es so etwas wie eine bewaffnete Opposition?

Kurtenbach: Nein. Die Maduro-Regierung hatte bisher zwei Überlebensgarantien: einerseits eine komplett zerstrittene Opposition, andererseits, dass die Waffen in der Hand des Regimes sind. Und dazu zählt nicht nur die Armee, sondern auch die Polizei und die Colectivos, also die bewaffneten Milizen, die Maduro nahestehen. Maduro hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass die ELN (Ejército de Liberación Nacional, linke Guerillagruppe an der Grenze Kolumbiens mit Venezuela, Anm.) notfalls auch noch auf seiner Seite kämpfen könnte. Dass die Opposition ihrerseits sich bewaffnet, habe ich bisher nicht registriert.

STANDARD: Kuba, Bolivien, Russland, China und die Türkei stehen nach wie vor hinter dem Maduro-Regime. Wie lange kann Maduro seine antiimperialistische Karte noch ausspielen?

Kurtenbach: Das hängt stark davon ab, wie lange diese Länder die Konfrontation mit dem Westen im Namen eines Landes aufrechterhalten wollen, das abseits ihrer eigentlichen geostrategischen Interessen liegt. Ein Problem für diese Länder dürfte auch das zentrale Element Venezuelas sein, denn wenn Maduro fällt, dürfte sich etwa auch Nicaraguas Daniel Ortega nicht mehr lange halten können.

STANDARD: Kommt es zu Blutvergießen?

Kurtenbach: Ich hoffe nicht. Andererseits kennen wir aus anderen Kontexten die Tendenz solcher Regime, unter Druck noch mehr Repression auszuüben. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, entweder das selektive Verhaften und Ermorden der Opposition, um den Rest der Gegner einzuschüchtern. Oder aber, so wie zuletzt in Nicaragua, das Regime greift zu großflächigen Repressalien, etwa indem es auf Demonstranten schießen lässt. In Nicaragua hatte Ortega damit Erfolg, weil zuletzt deutlich weniger Demonstranten auf die Straßen gegangen sind. (Florian Niederndorfer, 24.1.2019)