Vor 74 Jahren wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Jänner fand – organisiert von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka – eine Gedenkveranstaltung des Parlaments statt. Nicht zuletzt weil sich 2019 die erste Wahl, bei der auch Frauen in Österreich Wahlrecht hatten, zum 100. Mal jährt, wurde vor allem des weiblichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus gedacht. Schauspielerin Ursula Strauss las Texte von Frauen, die in unterschiedlicher Weise gegen die Nazis aktiv waren. Sobotka und Strauss, beide aus Niederösterreich, kennen einander seit langem durch diverse Kulturveranstaltungen.

Politiker trifft Künstlerin: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Schauspielerin Ursula Strauss sprachen in den Wiener Börsesälen nach der Gedenkfeier anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags über gestrige und heutige Politik.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Herr Sobotka, in der Einladung zur Holocaust-Gedenkfeier stand: "Frauen haben einen bedeutenden Beitrag zum Kampf gegen den NS-Terror geleistet, wofür ihnen von offizieller Seite nicht genug gedankt werden kann." Wie erklären Sie sich die relative Unsichtbarkeit und Unbedanktheit des weiblichen Widerstands?

Sobotka: Das hat damit zu tun, dass sie primär nicht im militärischen Widerstand organisiert waren wie jene, die das Hitler-Attentat durchgeführt haben, oder in der Widerstandsgruppe O5. Es gab den organisierten Frauenwiderstand eher in der zweiten Linie, aus der Organisationen unterstützt wurden. Und sehr viele Frauen haben individuell passiven Widerstand geleistet. Etwa Ordensfrauen, die einfach Dinge nicht ausgeführt haben, die sich geweigert haben, an der Euthanasie behinderter Menschen mitzuwirken, und sei es, Listen zum Abtransport auszufüllen. Trotz der ungeheuren Engmaschigkeit des Naziregimes ist doch einiges passiert. Das ist für die Haltung einer Gesellschaft ganz wichtig, weil es andere bestärkt, vielleicht mehr Mut zu zeigen.

STANDARD: Frau Strauss, was bedeutet es für Sie, diesen Frauen heute eine Stimme zu geben?

Strauss: Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ich erbitte immer, dass sie mich irgendwie unterstützen. Ich versuche, mich in dem Moment in diese Frau, diesen Menschen hineinzudenken, und merke aber – es sind nur Nuancen -, dass sich die Stimme immer ein bisschen verändert. Das lasse ich zu. Es hat viel damit zu tun, wie Dinge geschrieben sind. Das sind ja persönliche Aufzeichnungen, Tagebucheinträge, und das geschriebene Wort lässt eine bestimmte Person dahinter vermuten. So wie ich meinen Beruf empfinde, bin ich in diesem Moment ein Platzhalter und stelle mich zur Verfügung.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Wie definieren Sie – auch als Künstlerin – die Verantwortung der Nachgeborenen?

Strauss: Es ist sehr wichtig, dass man sich mit Geschichte auseinandersetzt, weil aus der Geschichte erwächst unsere Zukunft. Ich bin 1974 geboren, war im Stift Melk, und da wurde diesem Teil der Geschichte großes Augenmerk geschenkt, aber ich habe auch Leute kennengelernt, fünf, zehn Jahre älter als ich, die wenig oder nichts darüber gelernt haben. Wie eine der Frauen geschrieben hat: Wenn man will, kann man lernen, wenn nicht, wird man immer sagen, das ist alles erlogen.

Sobotka: Dass man spät begonnen hat, strukturiert aufzuarbeiten, ist richtig. Die minderbelasteten Nationalsozialisten waren ja in allen Parteien. Sie haben ihre Geschichte aufgearbeitet, jetzt langsam auch die FPÖ.

Strauss: Ich habe das Gefühl, wir sind mit vielen, vor allem sozialen Problemen unserer Zeit überfordert, weil wir nicht genug Bildung darüber, was passiert ist, erfahren haben oder uns auch selbst nicht genug bilden, nicht genug mit den Schwierigkeiten unserer Zeit auseinandersetzen. Uns miteinander nicht genug auseinandersetzen. Man hat sofort Angst, das Falsche zu sagen, muss immer die richtige Antwort haben. Das führt ganz schnell zu Schubladisierungen. Ich muss mich aber reiben können in Diskussionen, um dazuzulernen, auch um meine eigene Haltung besser kennenzulernen. Das wird aber häufig vermieden. Was wahnsinnig wichtig ist, um diesen Hass, der um sich greift, einzudämmen, ist Aufklärung – Aufklärung und Auseinandersetzung.

Sobotka: Ich lese gerade das Buch "Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden" des Heidelberger Soziologen Martin Schröder, der zeigt: Wir haben weniger Hungernde und weniger Kriegstote, aber die Berichterstattung ist die gleiche wie in Zeiten des Kalten Krieges. Die Worte Krise, Chaos, Krieg werden gleich oft verwendet. Die Hysterie nach 9/11, als die Leute, plötzlich weite Strecken mit dem Auto fuhren, hat mehr Tote im Verkehr produziert als Flugzeugabstürze. Die Armen werden ärmer – das ist eine Behauptung, die keinem Faktencheck standhält. Aber es wird niemand was dagegen sagen. Wir leben in einer grotesken Zeit. Darum sehe ich es sehr kritisch, wenn Analogien von damals zu heute gezogen werden. Geschichte wiederholt sich nicht und ist viel subtiler. Unsere Herausforderungen liegen in den politischen Extremen, und sie sind vielschichtiger und weniger leicht zu dechiffrieren als früher.

Strauss: Aber nur, weil die Grausamkeit subtiler ist, ist sie ja nicht weniger grausam. Ich geb dir völlig recht, das war eine andere Zeit, und unsere Gesellschaft hat sich in kürzester Zeit so gewandelt, vor allem durch den technologischen Fortschritt. Das bietet ein Feld für viel Undurchschaubarkeit und auch Grausamkeit.

Sobotka: Ich habe die große Sorge, dass man mit Analogien das verharmlost, was in der Nazizeit eigentlich passiert ist. Wir haben heute natürlich auch bedrohliche Entwicklungen, aber wir sind weit davon entfernt, in irgendeiner Form der Diktatur zu landen, die damals zum Naziterror geführt hat.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Nun haben Sie es mit einem Koalitionspartner zu tun, der (oder einzelne seiner Funktionäre) immer wieder neonazistische, rassistische oder antisemitisch konnotierte "Einzelfälle" liefert. DER STANDARD hat sie dokumentiert, im Schnitt einen pro Woche. Von "Sonderbehandlung" für integrationsunwillige Asylwerber über einschlägige Facebookgruppen bis zur "Liederbuchaffäre". Was sagen Sie dazu – als Historiker und als ÖVP-Politiker?

Sobotka: Wir sind unterschiedliche Parteien, und der Unterschied zur FPÖ ist klar und notwendig. Nur sollte man sorgsam sein und nicht immer gleich etwas aus Worten wie "Sonderbehandlung" konstruieren. Die FPÖ muss wissen, dass sie unter besonderer Aufmerksamkeit steht, und müsste da mit besonderer Sensibilität vorgehen. Aber daraus Nazigedankengut abzuleiten, halte ich für falsch. Ich toleriere aber keine Ausrutscher, wenn es um Antisemitismus und Nationalsozialismus geht. Da habe ich feine Haare und verlange eine Distanzierung.

Strauss: Also ich tu mir mit diesen Einzelfällen schon sehr schwer, aber das ist mein gutes Recht, und das ist auch meine Aufgabe als Künstlerin, solche Dinge kritisch zu hinterfragen. Ich gehöre keiner Partei an und kann sagen, dass das schon auffällig ist. Heute Abend haben wir immer wieder von Codes gehört und Zeichen, die man sich so gibt. Die blaue Kornblume etwa. Jetzt gibt's in Deutschland einen Politiker, der aus der AfD ausgetreten ist, eine neue Partei gründet und die Kornblume als Symbol für seine Partei wählt. Auch österreichische Politiker haben sich schon mit diesem Symbol geschmückt. Für mich ist das schon problematisch.

Sobotka: Keine Frage.

Strauss: Es handelt sich schon um auffällig viele sogenannte Einzelfälle, offensichtliche Lügen, und – wie man jetzt wieder gesehen hat – sogar Angriffe gegen die Menschenrechte, aber so richtig zu interessieren scheint das niemanden. Alle diese Dinge bleiben ohne Konsequenzen, und dadurch wird der Handlungsspielraum immer weiter ausgedehnt. Auch ein kluger Satz, der bei der Holocaust-Gedenkveranstaltung gefallen ist: "Es beginnt ja nicht mit den Konzentrationslagern, es beginnt mit dem Hass." Und mit Ausgrenzung und Schuldzuweisungen wird ja im Moment nicht gerade gegeizt.

Sobotka: Ich bin absolut dafür, dass man das auch aufzeigt. Ich bin aber für Fakten, keine Mutmaßungen. Und ich sehe es auch in einem größeren Zusammenhang.

Strauss: Das musst du auch, du bist Politiker.

Sobotka: Bei uns brennen keine Flüchtlingsheime, und ich sehe weder Radikalisierung auf der Straße noch eine Spaltung der Gesellschaft. Politische Differenzen bedeuten nicht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt infrage steht. Unser großer Vorteil ist unsere Zivilgesellschaft, die in den Vereinen organisiert ist. Dort, am Stammtisch, bei Feuerwehr und Musik, im Heimatverein, der die Geschichte aufarbeitet, wird heftigst diskutiert, aber letztendlich auch ein Miteinander ermöglicht. Unsere Aufgabe ist, dass wir alles daran setzen, diesen gesellschaftlichen Grundkonsens zu erhalten. Ich geb dir schon recht, nicht jede Aussage ist förderlich, und ich bin auch nicht der Verteidiger der FPÖ. Ich kann nur sagen: Sie müssen ihre Vergangenheit, ihre Geschichte genauso aufarbeiten wie alle anderen. Der müssen sie sich stellen. Punkt. (Lisa Nimmervoll, 26.1.2019)