Thema zum Nachdenken: Michael Ludwig und die SED.

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Gesinnung bekennen: Erich Honecker, ewig kämpferisch.

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Spitzbart zum Tragen: Ulbricht-Plakat auf einer 1.-Mai-Feier.

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Es ist ein liebgewordener Brauch unter Freiheitlichen, Vertreter der heimischen Sozialdemokratie (SPÖ) hartnäckig als "Sozialisten" zu bezeichnen. Für Außenstehende mag die Unterschlagung der Funktionsbestimmung "demokratisch" wie ein schlampiges Versehen anmuten. In Wahrheit soll der Zuhörer irritiert werden.

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Die SPÖ hieß von 1945 bis 1991 "Sozialistische Partei Österreichs". Trotz des Namens ließen ihre Vertreter keinen Zweifel aufkommen, dass sie aus voller Überzeugung für Rechtsstaatlichkeit eintraten, für demokratischen Pluralismus und Meinungsvielfalt. Ihre Gegner lassen es dabei nicht bewenden. Sie insinuieren, gestandene SPÖler hätten noch heute einen stechenden Geruch nach Staatshörigkeit und linkem Totalitarismus an den bequem geschnittenen Sakkos kleben. Nur so wird verständlich, dass Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) über das Dissertationsthema des Wiener Bürgermeisters herzieht. So geschehen im ORF-Report.

Sexy wie der Spitzbart

Michael Ludwig hat 1992 tatsächlich eine denkwürdige Arbeit zum Abschluss gebracht, um den Doktorgrad der Philosophie an der Universität seiner Heimatstadt zu erlangen. Seine Schrift nennt sich Das marxistisch-leninistische Konzept der "Partei neuen Typus" am Beispiel der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Der Titel verrät Wissenseifer. Er ist aber auch so sexy wie der Spitzbart des vorletzten DDR-Staatsratsvorsitzenden, Walter Ulbricht. Wir haben Michael Ludwigs retroaktiven Beitrag zur Herstellung weltrevolutionärer Verhältnisse gelesen: ein schmuck gebundener Band in den Beständen der ÖNB.

Man kann, so viel vorweg, guten Gewissens Entwarnung geben. Herbert Kickl und alle anderen Verächter linker Hochschulliteratur können beruhigt schlafen. Der Wiener Bürgermeister hat auch vor rund 27 Jahren nicht zur Verstaatlichung von Großbetrieben aufgerufen. Schon gar nicht hat er eine Enteignung aller Grundstückseigentümer befürwortet. Michael Ludwig hat schlicht nacherzählt, wie das war, als in der SBZ ("sowjetische Besatzungszone") nach 1945 aus den Trümmern Nachkriegsdeutschlands etappenweise eine rote Einheitspartei entstand.

Küsse für Flugrollbahnen

Früher einmal war die scharfe Abgrenzung der SPÖ zu allen staatssozialistischen Parteien im Ostblock konstitutiv fürs Selbstverständnis. Gleichwohl hat die Besinnung auf marxistische Wurzeln wenigstens auf junge Genossinnen und Genossen stets eine belebende Wirkung ausgeübt. Die Änderung der Eigentumsverhältnisse stand in der Tat einmal in Großbuchstaben auf sozialdemokratischen Flipcharts geschrieben. Später sollte es noch für beherzte Küsse sozialistischer Flugrollbahnen reichen, ob auf Kuba oder in El Savador.

Sozis wie Karl Kautsky bemühten sich vor 130 Jahren, Marx' Lehren so zu verdeutschen, dass alle Wohlmeinenden sie auf Anhieb verstehen. Doch politisch Übelwollende wollen sich mit Differenzierungen innerhalb der linken Strömungslehre nicht aufhalten. Ihnen gilt der rote Kommunalvertreter ebenso wenig wie der kommunistische Handlanger Moskaus.

Keine kryptokommunistischen Neigungen

Schlagartig wird deutlich, dass noch die gemütlich aussehenden Stadträte des Kabinetts Ludwig von ihren Widersachern als Nachfahren des "Roten Wien" (1920er-Jahre) angesehen werden. Die Angst vor der Diktatur des Proletariats ist bei Kickl und Co mit Händen zu greifen. Da kommt das Wissen um Ludwigs universitäres Leib-und-Magen-Thema gerade recht. Man fühlt sich nach Beendigung des SED-Schriftgenusses wie der Wolf aus dem Märchen mit den Geißlein. Man meint, Flusssteine gefressen zu haben. Haarklein wird man Zeuge, wie die migrierten deutschen KP-Kader aus Moskau in die Zone zurückkehrten und sogleich Hand anlegten, um ihren Einfluss auf das von Sowjets besetzte Land von Anfang an sicherzustellen.

Seitenweise liest man die Entschließungsprosa von Wilhelm Pieck und Konsorten. Alle Quellen sind mustergültig ausgewiesen. Für eventuell wertende Stellungnahmen fühlte sich Ludwig, der Dissertant, nicht zuständig.

Apropos Magen. Im Bauch der SED verschwanden 1946 die ostdeutschen Sozialdemokraten, die sich von einer Fusion mit den Kommunisten Demokratie und einen Verzicht auf den Leninismus erwartet hatten. Ein trübes Kapitel. Am lesenden Nachvollzug der Diktaturwerdung der DDR erfreuen sich heute hartgesottene Parteihistoriker. Symptome für kryptokommunistische Neigungen Ludwigs enthält das peinsame Werk aber nicht. (Ronald Pohl, 26.1.2019)