Gregori Edigaryan hat einen Plan. "Ich möchte Polizist werden, dann verdiene ich Geld. Damit kaufe ich für meine Mutter Holz, und das Holz schneide ich dann für sie und heize ein." Gregori ist zehn, und der Bruder seiner Mutter, sein 20-jähriger Onkel Lyova, hat ihn gerade von der Schule abgeholt. Der Onkel, Gregoris 30-jährige Mutter Manuschak und seine 59-jährige Oma Vard leben zusammen in einer desolaten Zweizimmerwohnung in Gyumri. Jetzt steht Gregori vor seinem Besuch aus Österreich und erzählt im bitterkalten Wohnraum schmunzelnd von seinen Zukunftsplänen. Im Hintergrund zwitschern zwei Wellensittiche in ihrem Käfig.

Die Türen zwischen den Räumen sind durchgebrochen, zum Teil ohne Türstöcke, es gibt eine Toilette, aber keine Dusche, schon gar kein Warmwasser. In einem Eingangsbereich, der auch als Küche dient, bollert ein kleiner Metallofen vor sich hin.

Gregori und sein Onkel Lyova in ihrer Wohnung in Gyumri. In der 1988 vom Erdbeben verwüsteten Stadt herrscht weiter große Armut.
Colette M. Schmidt

"Wir verheizen, was wir sammeln"

"Wir verheizen, was wir sammeln", erzählt Manuschak, "die Nachbarn helfen sich, wenn etwa wo ein alter Holzfußboden herausgerissen wird, kriegen wir Brennholz." Im Wohnraum kämpft ein einzelner kleiner elektrischer Heizkörper gegen die Kälte im hohen Raum an. Einst gab es hier nicht einmal Wände. Die Familie renoviert seit zwölf Jahren, so gut es ihr möglich ist.

Verheerendes Erdbeben 1988

Alle sind arbeitslos und würden gerne arbeiten. "Aber sogar als Putzfrau ist es schwer, etwas zu bekommen", erzählt Vard resignierend. Ein gemauertes Haus ist für die rund 150.000 Einwohner von Gyumri nahe der türkischen Grenze aber keine Selbstverständlichkeit. Nach dem verheerenden Erdbeben 1988, das die zweitgrößte Stadt Armeniens fast zur Gänze zerstörte und in und um die Stadt an einem Tag 25.000 Menschen tötete sowie eineinhalb Millionen Menschen obdachlos machte, lebt ein großer Teil der Stadtbevölkerung in Verhältnissen, die für viele Europäer schwer vorstellbar sind.

Rund 3000 leben in Gyumri nach 30 Jahren immer noch in "Domiks" (russisch: kleines Haus, Anm.), wie man hier die temporären Containerunterkünfte nennt, die nach dem Erdbeben errichtet wurden. Auch im Winter, wenn die Temperaturen bis auf minus 30 Grad fallen. Tausende Kinder gehen hier abends hungrig und frierend zu Bett. 1988 kam Hilfe aus aller Welt für Gyumri, damals wurde auch die Caritas Österreich hier tätig.

Heizkostenzuschuss

Gregoris Familie ist seit zwei Jahren im Programm Warmer Winter der Caritas, das 220 Familien in Gyumri, Vanadzor und anderen Städten mit einem Heizkostenzuschuss und bei der Stromrechnung hilft. Doch einer breiten Öffentlichkeit ist nicht klar, wie prekär hier die Familien und ganz besonders viele Kinder leben müssen. Nach dem Erdbeben verlor die einst wohlhabende Industriestadt 1991 durch den Zusammenbruch der Sowjetunion auch ihren Absatzmarkt für Chemie.

Die Arbeitslosigkeit liegt heute in Armenien bei rund 20 Prozent, in der Region Shirak, in der Gyumri liegt, sogar bei über 40 Prozent. Das hat für Shirak eine besonders hohe Armutsrate von 47,2 Prozent zur Folge, die Kinderarmut liegt bei über 50 Prozent.

Gedämpfte Euphorie

Die Euphorie, die man etwa in der Hauptstadt Jerewan wegen des neuen Ministerpräsidenten und Ex-Journalisten Nikol Paschinian wahrnimmt, der nach unblutigen Massenprotesten seit Dezember 2018 mit satten 70 Prozent regiert und die Korruption abschaffen will, ist im kalten Wohnzimmer der Familie Edigaryan gedämpft.

"Ich kann nicht schlafen, weil sie nachts herauskommen", erzählt in einem anderen Viertel der Stadt die 37-jährige Armenuhi Bernetsyan. In den beiden Zimmern, in denen sie, ihr Mann Spartak Mkrtchyan, sechs Kinder und die Schwiegermutter wohnen, kommen nachts Ratten aus Löchern, die man notdürftig abgedeckt hat. Auch hier ist es kalt, die Zimmer sind winzig. Die älteste Tochter ist 13, erfolgreich im Leichtathletikverein, aber dauernd krank, weil sie auf dem Boden schlafen muss.

Armenuhi Bernetsyan, hier mit einem ihrer Kinder, kann wegen Ratten nicht schlafen.
Foto: Colette M. Schmidt

Alle schulpflichtigen Kinder gehen täglich in die Schule, Bildung ist der Familie sehr wichtig. Teils haben sie einen Schulweg von sechs Kilometern. "Der öffentliche Verkehr ist teuer", sagt der 44-jährige Spartak. Er verlor durch das Erdbeben sein Elternhaus, deshalb wohnt die Familie in einem kleinen Zubau. Spartak repariert gelegentlich Autos, hat aber auch schon in einer Kuchenfabrik gearbeitet. Seine Frau ist Friseurin, doch da ein Kindergarten für die zweijährigen Zwillinge viel zu teuer wäre, kann sie derzeit nicht arbeiten.

Viele sind ausgewandert

Armenuhis Herkunftsfamilie ist nach Russland ausgewandert – wie viele andere. Während in Armenien auf einer Fläche, die so groß wie die Steiermark und Tirol zusammen ist, drei Millionen Menschen leben, gibt es im Exil weit mehr Armenier. Jede Familie hat Verwandte in Russland oder den USA.

Kinder im Kindergarten Rainbows in Gyumri.
Foto: Schmidt

"Hey, hey, ich habe Mama und Papa noch nie so glücklich gesehen", singen tanzende Vierjährige im Kindergarten Rainbows in Gyumri, der in einem Container untergebracht ist. Das Lied ist ein Revolutionshit aus dem Jahr 2018. Mitten in diese hoffnungsvolle Stimmung fiel im September auch die Eröffnung der Bäckerei Agregak im Zentrum von Gyumri. Es ist die erste inklusive und barrierefreie Bäckerei Armeniens, wo Menschen mit Beeinträchtigung Brot und Mehlspeisen backen und verkaufen lernen. Auch für ihre Eltern, sehr oft alleinerziehende Frauen, wurden hier Arbeitsplätze geschaffen. Mittlerweile hat der Laden, der auch in Wien-Neubau stehen könnte, Kultstatus und trägt sich vielleicht bald selbst.

In der Bäckerei Agregak arbeiten Leute mit und ohne Beeinträchtigung.
Colette M. Schmidt

"Kleine Sonne"

Agregak bedeutet "kleine Sonne", und die Bäckerei ist Teil des Begegnungszentrums für Menschen mit Beeinträchtigungen "Emils kleine Sonne" am Stadtrand. Hier stellte die Caritas Armenien mit der Caritas Vorarlberg und der Hilfe von 80 Sponsoren, darunter viele Wirtschaftstreibende aus Österreich, 2015 ein lichtdurchflutetes Gebäude aus duftendem Vorarlberger Holz samt Spielplatz, Kräutergarten und Radwegenetz hin. Es werden verschiedene Therapien angeboten und auch Eltern und Lehrer geschult. Selbstermächtigung ist das Ziel, nicht nur einmalige Hilfe. Rund 100 Kinder werden in dem Tageszentrum wöchentlich betreut.

Martin und sein Physiotherapeut.
Foto: Schmidt

Der vierjährige Martin, der hier am Mittwoch mit einer Gehhilfe und einem Physiotherapeuten den Gang auf und ab spaziert und zwischendurch Fische im Aquarium füttert, konnte nicht gehen, bevor er das erste Mal hierhergebracht wurde. Der Präsident der Caritas Österreich, Michael Landau, ging am Mittwoch auch die Gänge des Zentrums auf und ab – zum ersten Mal. Er betont bei seinem Besuch die Wichtigkeit, dass man gerade Kindern schnell hilft. Denn wenn diese in Armut leben und nicht lernen können, "hat das auch katastrophale Auswirkungen auf ihr ganzes Leben und die Gesellschaft, in der sie aufwachsen". (Colette M. Schmidt aus Gyumri, 26.1.2019)