In "Wer hat meinen Vater umgebracht" sucht Édouard Louis nach dem verschütteten Selbstbild seines Vaters – und demaskiert jene, die diesem sein Leiden aufgebürdet haben.

Jerome Bonnet / modds

Faulheit ist kein Privileg aus Wien, auch in Frankreich schlafen manche viel zu lang. Emmanuel Macron hat bereits 2017, lange vor Sebastian Kurz, Menschen, die keine Arbeit finden, als "Faulpelze" diskreditiert. Der Vater von Édouard Louis nahm das persönlich. Obwohl arbeitsunfähig, musste er schon als Straßenkehrer arbeiten, um seine Sozialhilfe nicht zu verlieren. Der Sohn bringt die widerstreitende Gefühlslage einmal schön auf den Punkt: "Es gibt keinen Stolz ohne Scham. Du warst stolz, kein Faulpelz zu sein, weil du dich schämtest, zu denen zu gehören, die mit diesem Wort belegt werden können."

Louis schreibt das in Wer hat meinen Vater umgebracht (erschienen im Fischer-Verlag). Mit seinem neuen, nur 78 Seiten schmalen Buch kehrt der Shootingstar der französischen Literatur noch einmal in die Welt seines autobiografischen Debütromans zurück. Das Ende von Eddy, der zu einem internationalen Bestseller wurde, las sich wie eine prosaische Variation auf Didier Eribons soziologische Selbstbeschau Rückkehr nach Reims. Es rekonstruierte seine schmerzhafte Loslösung aus dem proletarischen Elternmilieu in Nordfrankreich als so schonungslose wie theoretisch grundierte Abrechnung.

Vater als paradigmatischer Fall

Den Vater hat man aus diesem Buch noch als chauvinistische, homophobe, auch sonst wenig zimperliche Figur in Erinnerung. Nun rückt er ins Zentrum einer Annäherung, die Louis auch als eine Art "Versprachlichung" versteht. Denn dem Vater sei es verwehrt geblieben, seine Lebensgeschichte zu erzählen, schreibt er gleich zu Beginn. Er hat sein Leben in körperlicher Schwerarbeit gefristet, nach einem Arbeitsunfall wurde seine Wirbelsäule so schwer verletzt, dass er kaum mehr gehen kann. Louis will ihm mit seinem Schreiben Sichtbarkeit verleihen – das gelingt aber nur, indem er ihn als paradigmatischen Fall versteht: als Mann, dem sein Milieu Fesseln anlegte und den sein Männlichkeitsbild lähmte; als einen wie viele andere auch.

In Frankreich, wo das Buch schon vergangenen Mai erschienen ist, löste Wer hat meinen Vater umgebracht eine erregte Debatte aus. Das lag schon am Titel, der in einem unumwundenen "J'accuse!" kulminierte. Louis bezichtigt die höchsten Politiker seines Landes, angefangen von Jacques Chirac bis zu Macron, für das miserable Leben seiner Familie verantwortlich zu sein. Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch hätten dem Vater beispielsweise das Rückgrat gebrochen, indem sie den leidenden Mann weiter zu Schwerarbeit zwangen.

Kalter Wind

Dem 26-jährigen Louis blies daraufhin ein kalter Wind ins Gesicht. Frédéric Beigbeder titelte seine Kritik mit Verweis auf Émile Zola als Germinal, "der von Calimero überarbeitet" worden sei, und schrieb, Louis' Literatur sei nicht mehr als "Radical Chic". Aber auch forsche Linke wie Juan Branco stiegen in den Ring und beanstandeten "feiges Schreiben", das im Grunde nur nach Integration schiele. Louis' Verbündete wie der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie eilten zu Hilfe. Die Verteidiger erkannten in den Abwehrreaktionen die alten Ressentiments des etablierten Feldes, das dem Autor das Talent absprechen wolle – das "Urteil", würde Eribon sagen, fiel auf Louis zurück.

Die Zuspitzung ist eng mit dem politischen Engagement verbunden, welches Louis' Autofiktion tatsächlich eine allzu pädagogische Note verleiht. Seine politischen Lektionen wirken oft zu demonstrativ. Am Ende eines längeren Absatzes, in dem es um die Konstruktion des harten Männlichkeitsbildes seines Vaters geht, folgert Louis: "Die Männlichkeit hat dich zur Armut verdammt, zum Geldmangel. Hass auf Homosexualität = Armut." Solche schlaglichtartigen Verallgemeinerungen nehmen dem bildstarken, aufrichtigen Text etwas von seiner Ambiguität.

Sehnsucht nach Zuwendung

Dabei hätte Wer hat meinen Vater umgebracht in den persönlichen Erinnerungen schon genügend Potenzial. Wenn sich Louis erinnert, wie er als Frau verkleidet vor seinem Vater aufgetreten ist und dieser sich beschämt abwendete, wird die Sehnsucht nach Zuwendung greifbar. Er sucht das verschüttete, verdrängte Selbst seines Vaters, das das Band mit ihm erneuern würde. Er will ihm, durch alle Widersprüche hindurch, seine Liebe gestehen.

Dass es für die beiden tatsächlich eine Art versöhnlichen Ausgang gibt, mutet fast enttäuschend an. Die Entschuldigung des Vaters wirkt nach all den Unzumutbarkeiten, die Louis zu ertragen hatte, fast zu einfach.

Louis scheint unbedingt zeigen zu wollen, dass es möglich ist, die ideologischen Gräben zu überbrücken. In einem Essay hat er Ende 2018 festgehalten, dass er in den Körpern der Gelbwesten denselben Gestus wie bei seinem Vater wiedererkennt. Wer hat meinen Vater umgebracht erzählt von einem Schritt, der der Mobilisierung vorausgeht: Er sucht den Weg zurück ins Herkunftsmilieu, indem er die Feinde benennt, die an der Misere schuld sind. (Dominik Kamalzadeh, 26.1.2019)