Sie schlafen unter Brücken, in abgestellten Zügen, Parks, Abwasserrohren oder Autoreifen. Zehntausende oder gar hunderttausende Kinder leben in Ägypten auf der Straße. Wie viele es sind, ist nicht erhoben. Sie verkaufen kleine Dinge wie Taschentücher, machen im Stau stehende Autos sauber oder stehlen Lebensmittel, um zu überleben. Sie leben meist in Gruppen und unterstützen sich gegenseitig.

Der Streetworkerbus ist jede Nacht zu den Hotspots von Alexandria unterwegs. Im Bus werden kleine Verletzungen behandelt, Snacks verteilt, und die Kinder und Jugendlichen können spielen und ein wenig zur Ruhe kommen.
Foto: Stefanie Ruep

Es ist neun Uhr abends in einer Seitenstraße im Zentrum von Alexandria. Die Szenerie wirkt surreal: Im Dunkeln, nur vom Licht des Kleinbusses und einer Straßenlaterne angeschienen, sitzen zwölf Jugendliche auf Plastikhockern rund um Klapptische auf dem Gehsteig. Die Burschen sind zwischen zwölf und 18 Jahre alt, trotzdem bemalen sie Gipsfiguren, zeichnen Tiere und basteln Papierschiffe. "Sie sind immer noch Kinder", sagt einer der Sozialarbeiter von Children at Risk.

Mohamed ist einer von ihnen. Der 16-Jährige malt ein Herz mit Flügeln und einem Vorhängeschloss in der Mitte. Mohamed lebt seit etwa sieben Jahren auf der Straße, erzählt er den Streetworkern. Sein Vater habe ihn verstoßen, weil ihn seine Stiefmutter nicht mehr wollte. Nun ist die Straße sein Zuhause, seine Freunde seine neue Familie. Er putzt tagsüber Autos an einer Ampel und hofft auf etwas Geld. "Manchmal sind die Leute aggressiv, aber manche fragen, wie es mir geht", erzählt er. Er wünscht sich eine richtige Arbeit, doch hat er keine Papiere, dazu würde er die Unterschrift seines Vaters benötigen.

Mohamed lebt seit sieben Jahren auf der Straße. Tagsüber putzt er Autos, am Abend trifft er sich mit Freunden beim Bus.
Foto: Stefanie Ruep

Die Sozialarbeiter der Caritas sind jede Nacht mit einem Betreuungsbus im Einsatz, um die Kinder auf der Straße zu versorgen. Mit dabei ist auch der Arzt Ahmet El Kordi. Er hat in der im Bus eingebauten Krankenstation Mohameds Arm versorgt, der Junge hatte eine Verbrennung dritten Grades.

"Keiner interessiert sich für sie. Wir kümmern uns und hören zu", sagt Hany Maurice, Leiter der Caritas Alexandria. "Unsere Hauptaufgabe ist Fürsorge und Liebe." Die Gründe dafür, dass die Kinder auf der Straße landen, sind vielfältig. Sie fliehen vor häuslicher Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch. Laut Unicef sind 93 Prozent aller Kinder in Ägypten in der Familie Gewalt ausgesetzt. Einige werden verstoßen, weil es zu viele Familienmitglieder gibt, oder in die Kinderarbeit gedrängt. Manche landen auf der Straße, weil ihre Eltern im Gefängnis sitzen, andere leben schon in der dritten Generation auf der Straße.

Laut Unicef sind 93 Prozent aller Kinder in Ägypten in der Familie Gewalt ausgesetzt.

In Alexandria können die Kinder das Tageszentrum der Caritas besuchen. Es wurde im Jahr 2000 mit Mitteln der Caritas Salzburg errichtet. Seither unterstützt die Caritas Salzburg das Projekt Children at Risk mit 120.000 Euro im Jahr und erreicht so 1.000 Straßenkinder.

Die Burschen beim Frühstück im Tageszentrum der Caritas.
Foto: Stefanie Ruep

Morgens herrscht in dem fünfstöckigen Haus bereits reger Betrieb. Die Straßenkinder bekommen dort frische Kleidung, Essen und können duschen. Es gibt Werkstätten, in denen sie sich betätigen können, sowie Alphabetisierungskurse und Lernprogramme. Ziel ist, die Kinder wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Zeichnungen, die beim Gespräch mit der Psychologin entstanden sind.
Foto: Stefanie Ruep

Es gibt eine Rechtsberatung und eine psychologische Betreuung. Die Frau, die alle Geheimnisse kennt, ist Heba Yakout. Die Burschen vertrauen sich der 30-jährigen Psychologin an. "Viele Buben wollen nicht sprechen. Sie malen dann", sagt sie. An den Wänden am Eingang zu ihrem Büro hängen Porträts von finstern, strengen Männern. In dem acht Quadratmeter großen Büro sind die Bilder freundlicher. "Viele Kinder wissen ihren Nachnamen nicht oder wo die Familie genau lebt. Manche lügen über ihren Wohnort, weil sie nicht zurückwollen", sagt Yakout.

Ohne Geburtsurkunde keine Schule

Der neunjährige Adham* ist seit einem Jahr hier, weil seine Familie im Gefängnis sitzt. "Er lebte bei einer Gang, die in der Prostitution und im Drogen- und Organhandel tätig war. Sein Vater ist nicht bekannt", sagt die Psychologin. Ein Stempel, der das ganze Leben des Kindes beeinflussen kann. Ohne einen Vater in der Geburtsurkunde sei das Kind stigmatisiert. "Wir versuchen einen Namen von der Mutter zu erfahren, doch der Mann muss das bestätigen", sagt Yakout. Nur der Mann kann die Geburtsurkunde beglaubigen, und ohne Geburtsurkunde kann das Kind keine Schule besuchen. Dass sich ein anderer Mann des Kindes annimmt, sei auch nicht möglich, denn Adoption ist in Ägypten verboten.

Die Psychologin Heba Yakout mit dem fünfjährigen Karim, der gerade mit Ton gebastelt hat.
Foto: Stefanie Ruep

Solche Situationen seien das Schwierigste in ihrer Arbeit, sagt die Psychologin – wenn sie wisse, was ein Kind brauche, und keine Möglichkeit sieht, es zu bewerkstelligen. "Egal wie sehr sie sich verändern und an sich arbeiten, die Gesellschaft akzeptiert sie nicht. Es ist ein Stigma. Sie bleiben immer Straßenkinder."

Trotz der bedrückenden Geschichten wirken die Kinder im Tageszentrum der Caritas aufgeweckt und lebenslustig. Sie lachen, spielen und blödeln herum, was Kinder zwischen sechs und zwölf eben machen. Etwa 30 Burschen leben für längere Zeit in dem Haus in einer betreuten Wohngemeinschaft.

"Viele Mädchen auf der Straße verschwinden einfach", sagt der Leiter der Caritas Alexandria, Hany Maurice.

In einem anderen Stadtteil gibt es seit 2011 auch eine Notunterkunft für 25 Mädchen. Rund 90 Prozent der Straßenkinder sind Burschen. Wenn ein Mädchen die Familie verlässt oder auf der Straße landet, sei es schwieriger für sie, wieder zurückzukehren, erläutert Hany Maurice. Der Grund: Die Familien gehen davon aus, dass das Mädchen auf der Straße vergewaltigt wurde. Wenn das Mädchen keine Jungfrau mehr ist, dann nimmt es die Familie meist nicht mehr auf. "Viele Mädchen auf der Straße verschwinden einfach", sagt der Leiter der Caritas Alexandria. Sie kommen irgendwo als Hausmädchen unter, prostituieren sich oder werden gar getötet. "Niemand spricht darüber."

Die drei kleinsten Mädchen in der Notunterkunft sind erst sechs Jahre alt. Ihre Mütter sitzen wegen Bettelei im Gefängnis.

Für die Mädchenunterkunft brauchte es eine muslimische Partnerorganisation, um sie als Caritas betreiben zu können. Die Mehrheit der Mädchen kommt aus anderen Regionen, und zu ihrem Schutz wurden sie nach Alexandria gebracht. Eine davon ist die 13-jährige Amina*, die aus Kairo stammt. Das Mädchen habe schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen, und habe schwere Depressionen, sagt die Psychologin. Sie wurde zu Hause geschlagen und missbraucht. Ihr Trauma verarbeite sie mit singen. Zweimal die Woche besuchen die Mädchen auch das Tageszentrum der Burschen, um gemeinsam zu spielen.

"Das ist mein Zuhause"

Ibrahim (24) züchtet auf dem Dach des Caritas-Hauses Tauben. Er lebt seit 15 Jahren in dem Zentrum und unterstützt nun die Kleinen.
Foto: Stefanie Ruep

Der kleinste und jüngste Bursche im Haus ist der fünfjährige Karim*. Er wurde vor zwei Monaten von der Polizei zur Caritas gebracht. Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter und Großmutter konnten sich nicht ausweisen. Er wollte nicht zu ihnen zurück, weil er geschlagen wurde, schildert die Psychologin seine Situation.

Am längsten lebt der 24-jährige Ibrahim in dem Caritas-Haus. Er ist das Vorzeigekind des Projekts, hat die Schule abgeschlossen und studiert Computerwissenschaften. Auf dem Dach des Hauses züchtet er Tauben. Zwei habe er gekauft, nun sind es bereits acht. Er spricht sehr gut Englisch und auch ein bisschen Deutsch. Mit acht Jahren ist Ibrahim von zu Hause ausgerissen. "Es war kein Spaß auf der Straße. Jederzeit musst du flüchten können, immer laufen. Man wollte uns nirgends sehen. Die größte Sorge war, etwas zu essen zu finden." Freunde haben ihn damals zur Caritas gebracht, wo er heute auch die kleinen Kinder unterstützt. "Wir sind alle Brüder. Das ist mein Zuhause." (Stefanie Ruep, 1.2.2019)