Nicolas Massu hat die Haare noch immer lang. Die wohlverdiente Tennispension verbringt er als Daviscup-Kapitän für sein Land Chile.

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Dennis Novak (li.) und Jurij Rodionov spielen Einzel.

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Das Öde an Einzelsportarten ist, dass man meistens allein ist. Das gilt vor allem bei Niederlagen und in traurigen Momenten. Niemand nimmt einen in den Arm, niemand redet gut zu, niemand streichelt den Kopf. Nicht ganz so schlimm, aber schon auch gemein, ist es im Moment des Triumphs. Bei Teamsportarten wird gemeinsam gejubelt, man fällt sich in die Arme. Ein Einzelner wirkt bei großer Freude unfreiwillig ein bisschen komisch. Im Tennis, vielleicht einer der einsamsten Einzelsportarten, hat es sich eingebürgert, dass man im Moment des großen Triumphs einmal liegen geht. Der Matchball ist gewonnen, der Schläger fliegt durch die Luft und dann einmal hinlegen – Blitzlichtgewitter.

Athen 2004

Am 22. August 2004, kurz nach 22 Uhr, liegt in Athen ein Chilene auf dem Boden – Blitzlichtgewitter. Nicolas Massu hat die Hände vor dem Gesicht. Er schüttelt immer wieder den Kopf. Auf der anderen Seite schlurft der US-Amerikaner Mardy Fish Richtung Netz. Er hat gerade das Tennisfinale der Olympischen Spiele in fünf Sätzen gegen Massu verloren. Fish lag schon mit 2:1 vorne. Niemand streichelt ihm den Kopf. Massu steht auf, die langen Haare sind zerzaust, das Gesicht verzerrt vor Tränen der Freude. Noch kann er niemanden umarmen, keine Hände schütteln, er wird noch nicht auf Schultern getragen. Am Vorabend war es leichter: Da holte Massu mit Fernando Gonzalez im Doppel das erste olympische Gold für sein Heimatland Chile. Ihre Gegner, Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler aus Deutschland, vergaben vier Matchbälle. Sie mussten sich trösten.

Massu war damit der erste Tennisspieler, der Doppel- und Einzelgold im Tennis holte. Er sprach damals von den "zwei besten Tagen seines Lebens" – no na. Der Rechtshänder spielte sich auch in die Geschichtsbücher seines Landes. Chile hatte endlich bei Olympischen Spielen angeschrieben. Beim Empfang waren die Straßen der Hauptstadt Santiago bummvoll. Gonzalez und Massu saßen auf einem Doppeldeckerbus ohne Dach und genossen. Es war sehr laut damals im August.

Sechs Turniersiege

Massus Karriere schlich sich im Schatten des berühmtesten chilenischen Tennisspielers an die Oberfläche. Marcelo Rios war in den 90er-Jahren im Tenniszirkus eine große Nummer, er schaffte das Kunststück, Nummer eins der Welt zu werden, ohne je ein Grand-Slam-Turnier gewonnen zu haben. Rios Karriere klang aus, Massu und Fernando Gonzalez starteten durch. Bei den Olympischen Spielen 2000 sollte Rios die chilenische Fahne tragen, weil aber seine Eltern keine Tickets bekamen, sagte er ab. Massu durfte einspringen. Insgesamt brachte es der 183-Zentimeter-Mann aus Viña del Mar auf sechs Turniersiege, darunter Kitzbühel. Außerdem sammelte er fleißig Spitznamen: El Vampiro wegen seiner Schneidezähne und seines teils finsteren Aussehens. Bei Raccoon muss man schon kreativer sein.

Auf dem Platz war Massu ein Klassiker der südamerikanischen Sandplatzschule. Ein Grundlinienkämpfer, der geschickt die Bälle verteilte, den Gegner zermürbte und im richtigen Moment draufging. Durchaus spektakulär. Spektakulär war auch sein Temperament. Massu schimpfte gerne: mit allen Anwesenden und vor allem mit sich selbst. Chiflado sagt man im Spanischen: ein bisschen durchgeknallt.

Rancagua 2009

Heute ist nicht mehr viel chiflado da. Massu ist chilenischer Daviscup-Kapitän. Bei der Auslosung zum Duell mit Österreich in Salzburg sieht man der ehemaligen Nummer neun der Welt die Tennispension an. Die Haare sind noch immer lang und zusammengebunden. Der Jogginganzug ist weit genug. Mit Österreich verbindet den 39-Jährigen vor allem eine legendäre Partie gegen ÖTV-Kapitän Stefan Koubek. Massu setzte sich 2009 in Rancagua nach mehr als fünf Stunden durch und holte den entscheidenden Punkt. Und überhaupt: Alle drei bisherigen Begegnungen zwischen den Südamerikanern und Österreich gewann Chile.

Am Freitag eröffnet Debütant Jurij Rodionov gegen Chiles Nicolas Jarry. Der 19-Jährige will Österreich bei seinem Debüt stolz machen. Am Ende wollen sich aber beide umarmen lassen. (Andreas Hagenauer, 31.1.2019)