Ein "harter Brexit" werde nicht nur für die Briten, sondern auch für die 27 EU-Partner gravierende Folgen haben, meint Außenministerin Karin Kneissl.

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Außenministerin Karin Kneissl geht davon aus, dass es am 29. März 2019 zu einem ungeordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union kommen wird. Weder werde es bis zu diesem Termin einen neuen Austrittsvertrag geben, wie das britische Unterhaus verlangte, noch seien die 27 EU-Partner bereit, die Frist für den Brexit zu verlängern, wenn es keinen Zweck dafür gebe, sagte sie in einem Interview mit dem STANDARD am Rande des informellen Treffens der EU-Außenminister in Bukarest.

Alle möglichen Vorschläge zur umstrittenen Frage der offenen Grenzen in Irland seien schon auf dem Tisch gewesen, "aber es hat nicht funktioniert". Die EU-27 seien sich einig: "Das beschlossene Abkommen wird nicht aufgemacht", sagte Kneissl. Sie seien auch nicht bereit, ihre gemeinsam erarbeitete Position zum Brexit aufzugeben, berichtete sie von Gesprächen mit ihren Kollegen, wo sie schon "einen hohen Grad an Frustration" angesichts immer neuer Forderungen aus London festgestellt habe: "Von den EU-27 wird niemand ausbrechen."

Ein "harter Brexit" werde nicht nur für die Briten, sondern auch für die 27 EU-Partner gravierende Folgen haben. Wenn Großbritannien ab April nicht mehr einzahle, "dann fehlen bereits 2019 im EU-Budget 17 Milliarden Euro", so Kneissl, "es stellt sich die Frage, ob die wenigen Nettozahler dann dafür aufkommen".


STANDARD: In der Frage des Brexits gibt es ein Patt zwischen Großbritannien und den 27 EU-Partnern. Wie ist Ihre Einschätzung, wird das zu einem ungeregelten EU-Austritt führen?

Kneissl: Für mich deutet manches auf einen harten Brexit hin. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie etwas in sechs Wochen neu verhandelt werden kann, was dann von allen 27 EU-Staaten angenommen wird und durch die Parlamente geht – und man auch noch die Frist einhält.

STANDARD: Also den vorgegebenen Termin des Austritts am 29. März.

Kneissl: Der ständige Ratspräsident Donald Tusk hat gesagt, er mache einen zusätzlichen Sondergipfel wie den, den wir am 25. November in Brüssel hatten, nur dann, wenn das wirklich einen Zweck hat.

STANDARD: Da wurde der Austrittsvertrag mit der britischen Premierministerin Theresa May einstimmig vereinbart. Nun will das Unterhaus ja nicht den ganzen Vertrag neu verhandeln, nur den Backstop zu den offenen Grenzen in Irland. Warum nicht?

Kneissl: Es kommt sehr drauf an, was der neue Vorschlag aus Großbritannien darstellt, was nicht ohnehin in den sogenannten roten Linien ist, die die Briten selber aufgestellt haben. Es gibt die Idee einer technologischen Überwachung der Grenze. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie das funktionieren soll.

STANDARD: Den Vorschlag hatte May schon vor einem Jahr gemacht.

Kneissl: Wir hatten alles schon einmal auf dem Tisch. Es wurde alles probiert, aber es hat nicht funktioniert.

STANDARD: Nun ist es aber so, dass fast alle großen EU-Verträge immer erst im zweiten Anlauf gelungen sind beziehungsweise angenommen wurden, der von Maastricht 1992, der aktuelle von Lissabon 2010. Warum soll das bei diesem wichtigen Austrittsvertrag nicht so sein?

Kneissl: May hat selber gesagt, wenn man jetzt ein zweites Referendum macht, dann hätten sie eine riesige demokratiepolitische Krise. Auf das wollen sich die Briten nicht einlassen, so wie ich das verfolge. Und in Brüssel will man sich auf einen neuen, zweiten Vertrag nicht einlassen.

STANDARD: Also kein Deal in letzter Minute, bei dem man notfalls ganz am Ende noch ein paar Milliarden drauflegt, um einzelne Probleme zu überwinden?

Kneissl: In all meinen Gesprächen mit britischen Vertretern gab es im vergangenen Jahr den Grundtenor "Helft uns!". Man spürte eine Sehnsucht nach einer Wunderlösung, sie haben gesagt, man brauche nur mehr Zeit. Unsere Antwort war stets, das ist Sache unseres Chefverhandlers Michel Barnier, der hat Verhandlungsvollmacht der EU-27.

STANDARD: Jetzt müsste eigentlich die höhere Ebene eingreifen, die Staats- und Regierungschefs.

Kneissl: Das war bis jetzt die Meinung der 27, und das wollen sie eigentlich beibehalten. Was mich in Sachen Brexit bisher erstaunte, war eben die Kohäsion, der Zusammenhalt, den wir als 27 EU-Staaten hatten. Bei fast allen anderen Fragen sind wir über Kreuz. Beim Brexit haben wir immer gesagt, dass wir uns an Barnier halten. Das ist der Refrain in Brüssel: Das beschlossene Abkommen wird nicht aufgemacht. Jetzt sagen die Briten, das stelle sie schlechter als die Kanadier, weil es eine Verletzung der territorialen Integrität durch den Backstop für Irland gebe. Dazu gibt es nach meiner Beobachtung in den vergangenen Tagen hier in Bukarest einen hohen Grad an Frustration. Von den EU-27 wird niemand ausbrechen.

STANDARD: Was meinte der britische Außenminister Jeremy Hunt, als er gestern sagte, London brauche über den 29. März hinaus nur ein bisschen mehr Zeit, um einen Deal in letzter Minute innerstaatlich noch schnell vor den EU-Wahlen Ende Mai umzusetzen?

Kneissl: Dafür würde er das Okay der 27 EU-Partner brauchen. Das sehe ich nicht kommen.

STANDARD: Nun betonen aber die EU-27 auch, dass man den ungeregelten EU-Austritt unbedingt vermeiden müsse, weil es einen großen Schaden anrichten würde, nicht nur in Großbritannien, sondern auch im Rest der EU. Hält man das durch?

Kneissl: Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Briten bei einem harten Brexit ab 1. April nichts mehr ins EU-Budget zahlen.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass es dann mit der Einigkeit der EU-Partner rasch vorbei sein wird, der Streit erst richtig losgeht?

Kneissl: Wenn die Briten nicht mehr zahlen, fehlen bereits 2019 im EU-Budget 17 Milliarden Euro, sagen mir meine Kollegen. Es stellt sich die Frage, ob die wenigen Nettozahler dann dafür aufkommen. Es würde die Budgetgestaltung in diesen Ländern auf eine harte Probe stellen.

STANDARD: Offiziell wurde dazu bisher wenig gesagt. Was spricht man denn in den Couloirs darüber?

Kneissl: Der Brexit ist natürlich die große Unbekannte im Raum, auch wenn es nicht auf der Tagesordnung steht. Wir reden immer davon, was der harte Brexit für eine Katastrophe für die Briten wäre. Aber wir haben auch als EU-27 noch nicht zu Ende gedacht, was es für jeden einzelnen Bürger bedeutet. Es gibt zwar Vorbereitungen darauf, wie man sich zum Beispiel um britische Bürger kümmern wird, die ihren Lebensmittelpunkt in einem anderen EU-Land haben, oder um EU-Bürger, die in Großbritannien leben. Ich war vor kurzem in Vorarlberg, da gab es die Frage, dass Briten einen Deutschkurs auf B2-Niveau absolvieren müssten, um im Falle der Arbeitslosigkeit bestimmte Sozialbezüge haben zu können.

STANDARD: Wie löst man das?

Kneissl: Das muss gesetzlich geregelt werden. Es soll eine Rot-Weiß-Rot-Karte plus geben, die für die Briten maßgeschneidert ist. Wir müssten zum Beispiel unsere Konsulatsbeamten an der Botschaft in London aufstocken, weil Großbritannien Drittstaat wäre und die Visapflicht geregelt werden muss. Aber das sind eigentlich Kleinigkeiten.

STANDARD: Was wären dann größere Probleme beim harten Brexit?

Kneissl: Weil wir gerade in Rumänien sind: Die britische Luftwaffe schützt den rumänischen Luftraum. Rumänien hat keine eigene. Da könnte es dann Debatten geben bei den britischen Steuerzahlern, warum sie weiter dafür zahlen sollen.

STANDARD: Da kommen also noch viele Rechnungen auf den Tisch, über die bisher wenig bis gar nicht gesprochen wurde. Auch bei den EU-Missionen wie der Aktion Sophia im Mittelmeer zur Kontrolle der Migrationsströme?

Kneissl: So ist es. Oder es gibt jetzt schon Gespräche zwischen Spanien und Großbritannien wegen Gibraltar, auch wenn das surreal erscheint, weil es sich um einen Sonderfall der europäischen Geschichte handelt.

STANDARD: Das klingt danach, dass der Rummel um neue Regelungen nach dem harten Brexit Ende März erst richtig losgeht, wenige Wochen vor den Europawahlen. Was heißt das für die 27 EU-Länder?

Kneissl: Das ist der Punkt. Wir konzentrieren uns bisher immer auf die Briten, sagen, dass sie ins offene Messer rennen. Aber wir haben noch nicht zu Ende gedacht all die Folgewirkungen für die EU-27. Selbst bei einem ausverhandelten Austritt der Briten würden sie zeitgleich aus rund 750 bis 800 internationalen Verträgen austreten. Das müsste man alles einmal durchspielen. Es wird viel zu oft gesagt, dass es keine Alternativen gebe. Es fehlt an Denken in möglichen Szenarien, an Plänen B oder C.

STANDARD: In Bukarest haben Deutschland, Frankreich und Großbritannien gerade ihre gemeinsame Zweckgesellschaft zum Auffangen des Atomabkommens mit dem Iran vorgestellt. Würde das zum Beispiel überleben?

Kneissl: Dieses sogenannte E3-Format ist aus den Iran-Verhandlungen entstanden, dieses Trio Paris, London, Berlin wird auch weiter existieren, davon bin ich überzeugt.

STANDARD: Aber schwächt das nicht noch weiter die EU und ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wenn die Briten als Drittland mit den zwei mächtigsten EU-Ländern eigene Formate betreiben? Wie soll das gehen, jetzt auch bei der neuen Kontaktgruppe zu Venezuela, die man in Bukarest beschlossen hat?

Kneissl: Da gibt es keine Erfahrungen. Geopolitisch gesehen werden die Briten weiter im Boot sitzen. Das ist eine historische Konstante, was immer passiert, London, Paris und Berlin machen sich die Dinge untereinander aus. Das ganze 19. Jahrhundert war davon bestimmt.

STANDARD: Wie soll die EU-27 dann eine eigene stärkere Außen- und Sicherheitspolitik formen?

Kneissl: Die EU-27 werden sich völlig neu orientieren müssen. Das ist eines dieser Szenarien, die man sich durchüberlegen muss. Wir haben erlebt, dass die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sich in vielen verschiedenen Formaten entwickelt hat, weil es zu achtundzwanzigst nicht ging. Es gibt Visegrád, das Weimarer Dreieck. Jetzt auch die Aachener Vereinbarung von Frankreich und Deutschland, die nicht zu unterschätzen ist, gerade mit Blick auf den Brexit. Das hat alles Implikationen, die die kleineren und mittleren EU-Staaten irritieren könnten.

STANDARD: Mit dem Wegfall des Vereinigten Königreichs steigt jedenfalls das Gewicht der beiden anderen "Großmächte" in der Union, von Deutschland und Frankreich, die in Aachen eine viel engere Zusammenarbeit vereinbart haben. Was bedeutet das?

Kneissl: Vor allem Frankreichs Gewicht. Das spürt man jetzt schon. In den vergangenen Monaten war Frankreich mit den Protesten der Gelbwesten zwar innenpolitisch sehr mit sich selbst beschäftigt. Werden diese Probleme gelöst, wird die sehr selbstbewusste Politik Macrons in der Union, die er in der Sorbonne-Rede skizziert hat, wieder auf festen Beinen stehen. Dann würde Frankreich wieder voll da sein, so wie ich das im ersten Halbjahr 2018 erlebt habe. Es würde da und dort die Wege vorgeben.

STANDARD: Ist das mit ein Grund, warum Macron bei den Gesprächen zum Brexit gegenüber London besonders hart auftritt?

Kneissl: Frankreich hat nach dem Brexit Kapazitäten, die allen anderen EU-Staaten fehlen, vom Flugzeugträger bis zu militärischen Sondereinheiten, die jederzeit von Mali bis Südostasien verlegt werden können.

STANDARD: Bedeutet das, dass Frankreich in der EU eine viel stärkere Rolle spielen wird als bisher?

Kneissl: Der Aachener Vertrag ist zweifellos eine Antwort auf all das, was auf uns mit dem Brexit zukommt.

STANDARD: Anfang Mai, zwischen dem geplanten EU-Austritt der Briten und den Europawahlen Ende Mai, ist ein EU-Sondergipfel in Sibiu geplant, bei dem es um die langfristige Perspektive der Union, um EU-Reformen gehen soll. Was braucht die Europäische Union am meisten?

Kneissl: Glaubwürdigkeit. Wir haben sie in manchen Bereichen verloren, etwa als es darum ging, bei den Kriterien im Eurostabilitätspakt klare Kante zu zeigen. Es gab oft Ausnahmen, zuletzt wieder bei Frankreich, wo nach den Protesten Sonderzahlungen aus dem Budget erforderlich wurden. Im Windschatten dessen hat man Italien gleich mitgenommen.

STANDARD: Das drohende Defizitverfahren gleich wieder eingestellt. Wie groß ist die Gefahr, dass die vielen ungelösten Konflikte, nicht nur beim Euro, die seit Monaten durch das Brexit-Thema etwas zugedeckt wurden, jetzt voll wieder ausbrechen?

Kneissl: Dazu gehören die Artikel-7-Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen, gegen Ungarn.

STANDARD: Wie sehen Sie die Entwicklung in der Nachbarschaftspolitik, speziell zur Ukraine? Lässt sich der Konflikt mit Russland lösen?

Kneissl: Ich sehe eine gewaltige Unversöhnlichkeit. Die Krim-Frage ist von russischer Seite unverhandelbar, sie ist Kern des Minsker Verhandlungsprozesses. Ich wüsste nicht, was da passieren kann, damit wieder Dynamik einsetzt. Die Hoffnung vieler, und ich gehöre zu denen, ist, dass es zu einer Sicherheitsratsresolution kommt, in der man sich auf Entmilitarisierungen einigt, auf Überwachungszonen, Blauhelmeinsatz.

STANDARD: Und die Annexion der Krim durch Russland?

Kneissl: Der Istzustand ist klar, es ist juristisch als Annexion zu betrachten. Wie man es historisch betrachtet, ist eine andere Lesart. Aber völkerrechtlich ist es klar. Ich sehe da keine Lösung, was ich bedauere. Das war auch Thema in Davos. Man macht mir den Vorwurf, ich sei zu russlandfreundlich. Ich habe dort versucht zu erklären, dass wir Russland als Partner brauchen.

STANDARD: Es heißt, Sie hätten in Davos gesagt, dass man die Krim als Teil Russlands anerkennen solle.

Kneissl: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass wir eine gewaltige Entfremdung zu Russland haben, wenn man zurückdenkt an die Rede, die Präsident Putin 2001 im Deutschen Bundestag gehalten hat.

STANDARD: Wir haben mit dem EU-Austritt Großbritanniens begonnen, jetzt sind wir beim Konflikt mit Russland. Steht Europa eine Art Neuordnung bevor, die wir in ihrem Ausmaß noch gar nicht wirklich begriffen haben?

Kneissl: Ich sehe diese Neuordnung vor allem durch die Volksrepublik China mitbestimmt. Wir dürfen Chinas Rolle nicht nur als Investor, sondern als geopolitischer Akteur nicht vergessen. Wir haben viele EU-Staaten und Beitrittskandidaten, die sich stark an chinesischen Investitionen orientieren. Die Neuordnung wird nicht von den "alten" Akteuren kommen, wie wir das seit Jahrhunderten gewohnt waren, von Eurasien. Wir sollten nicht die Gegnerschaft zu Russland pflegen, das wirkliche Problem ist China. Dieses ist als wesentlicher Käufer von strategischer Infrastruktur von Duisburg bis zum Hafen von Piräus unterwegs. Das ist die wesentliche Herausforderung. (Thomas Mayer, 1.2.2019)