Sonja Völker machte sich nach ihrer zweiten Karenz im Handel selbstständig. "Ich will nicht 60 werden und denken: Hätt' ich doch, wär' ich doch, sollt' ich nicht."

Heribert Corn

Sie war Lehrerin, heute führt sie in der Wiener Innenstadt unter der Marke Herzilein Filialen für Kindermode und Papeterie. Sonja Völkers kleiner Shop in der Wollzeile beherbergte einst den Jagdgewandausstatter Turczynski. Dessen riesiges Hirschgeweih übersiedelte sie in ihre Wohnung. Dort fand sie jüngst auf dem Dachboden eine Schuhschachtel voller Liebesbriefe, die sie in die 80er-Jahre zurückversetzten.

STANDARD: Hätten Sie manchmal wieder gern drei Monate Urlaub im Jahr?

Völker: Jeden Tag. Drei Monate Ferien sind ein Wahnsinn. Ich hatte vergangenes Jahr eine Woche Urlaub. Das war's. Als Frau Lehrerin schaut man überdies täglich in der Früh in den Spiegel. Ich hingegen bin jetzt oft tagelang in Produktion und Büro unterwegs, schlurfe umher und drohe zu vergammeln. Ich hoffe, dass das nicht passiert. Vor Terminen rund um die Uhr und Messebesuchen blicke ich dann doch wieder hinein.

STANDARD: Sie waren Volksschullehrerin, sind jetzt Unternehmerin. Ich stelle mir beides so vor, wie einen Sack Flöhe zu hüten.

An die gute Fee glaubt Sonja Völker nicht. "Täglich aufstehen, Krönchen richten, no risk, no fun."
Foto: Heribert Corn

Völker: Meine Verantwortung Kindern gegenüber ist der Verantwortung für meine Mitarbeiter gewichen. Sie sollen sich auf ihren Arbeitsplatz verlassen können, jeden Monat ihr Geld auf dem Konto haben. Das ist ein Druck, der mir sehr wohl auch zu schaffen macht. Aber sobald ich mich beklage, sagt meine Mutter: Jammer nicht, du hast ja auch etwas anderes gelernt. Ich habe mit der Schule nicht aufgehört, weil sie mir keine Freude mehr bereitet hat. Ganz im Gegenteil. Aber ich habe auch andere Talente und will nicht 60 werden und denken: Hätt' ich doch, wär' ich doch, sollt' ich nicht.

STANDARD: Sie schneiderten gern. Auf Märkten kam Ihre Kindermode gut an. Sie eröffneten ein Geschäft, aus dem eine kleine Handelswelt wurde. Ein Gründerleben wie aus dem Bilderbuch – oder täuscht das?

Völker: Ein Unternehmen ist wie ein Baby. Es ist wichtig und ständig präsent. So ist es eben. Meine 25-jährige Ehe ging zum Teil deswegen in die Brüche. Ich war damals knapp davor, alles hinzuwerfen, mir nur ein Geschäft zu behalten. Aber ich habe versucht, weiter täglich aufs Neue aufzustehen und mir mein Krönchen zu richten, wie man so schön sagt. Ich bin daran sehr gewachsen, ich habe zwei weitere Shops eröffnet, einen Standort übersiedelt. Heute bin ich stolz, es allein geschafft zu haben. Aber die gute Fee, die sagt: "Mach es, es wird schon alles gut", gibt es nicht. No risk, no fun.

STANDARD: Sie haben viel eigenes Geld investiert. Was, wenn Sie sich verkalkuliert hätten?

Völker: Ich bin sehr mutig, kann schnell entscheiden. Ich habe nie aktiv nach Shops gesucht, sie fielen mir zu. Andere lassen Unternehmens- und Steuerberater ausrechnen, ob es sich rentiert. Ich verlasse mich stur auf mein Bauchgefühl. Bei der Filiale Am Hof erzählte man mir von einem wunderschönen alten Geschäft. Ich wollte da nicht hin, weil ich weiß, bei mir brennen die Sicherungen durch. Dann stehe ich dort, und jede Ecke schreit: Nimm mich! Ich schreie zurück: Nein, ich hab' eh schon so viel Arbeit, ich bin eine One-Woman-Show! Trotzdem will ich es wissen, will ich es retten. Sonst kommt ein böser Handyshop und reißt alles Alte für immer heraus. So was tut mir einfach weh.

STANDARD: Reizt Sie die Expansion in andere Städte?

Völker: Ob Salzburg oder München, Herzilein würde überall gut gehen. Aber ich habe gern alles am Krawattl, Distanz bereitet mir Kopfzerbrechen.

STANDARD: Mit Blick auf die Bürokratie: Verbringen Sie heute mehr oder weniger Zeit hinterm Schreibtisch als einst als Lehrerin?

Völker: Viel mehr. Ich komme nicht zu dem, was ich gut kann, schlage mich stattdessen mit Bescheiden von Magistratsabteilungen herum. Ich habe das Gefühl, es wird immer schlimmer.

STANDARD: Sie waren 2014 Mitglied der Deregulierungskommission. Was ist aus der geplanten Entrümpelung des Staates geworden?

Völker: Man rief mich damals aus dem Finanzministerium an und wollte mich kleines Würstel, um von Problemen an der Front zu erfahren. Der Regierung wurde dann ein fetter Katalog an Vorschlägen übergeben. Fragen Sie mich nicht, was davon umgesetzt wurde. Dazwischen gab es Neuwahlen.

STANDARD: Wo ließen sich bürokratische Auswüchse eindämmen?

Völker: Es sind viele kleine Dinge, die Unternehmen belasten. Nehmen wir etwa die Luftsteuer: Eine Markise, ein Steckschild oder ein Holzportal stehen 25 Zentimeter in die Wiener Luft. Dafür ist eine Steuer zu entrichten. Anstatt dass man sich fürs schöne Portal bedankt, das wir von Wiener Tischlern bauen lassen. Die Rechnungen, wofür man wie viel bezahlt, sind ein Dschungel. Oder Weihnachtsbeleuchtung: Sie kostet ein Vermögen an Steuern. Zugleich wird sie von der Wirtschaftskammer gefördert. Es ist ein Kreis, der viele Leute beschäftigt. Und ständig kommt etwas Neues dazu. Mehr Datenschutz ist wunderbar, aber die nervigen 50 Spams, die ich täglich erhalte, gibt es nach wie vor.

Ode ans Papier: Ein Gutteil der Papeterie ist handgemacht.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Sie betreiben zwei Filialen in der Wiener Wollzeile. Etliche alteingesessene Händler gaben hier in den vergangenen Jahren auf. Haben viele Konzepte einfach ein Ablaufdatum?

Völker: Nein. Ich lehne mich sehr weit aus dem Fenster, indem ich behaupte, gescheiter zu sein. Aber viele Probleme waren hausgemacht, manches Geschäft war einfach verstaubt. Es braucht nette Auslagen, eine Szenerie, die einen auffängt, keine Ware, die auf billige Regale gestapelt ist. Kunden nehmen Energie und Stimmung aus dem Geschäft mit.

STANDARD: Versperren hohe Mieten und Ablösen den Weg für innovative junge Nachfolger?

Völker: Auf der Wollzeile gibt es zum Teil Mieten, mit denen sich Geschäfte nicht rentabel führen lassen. Das geht sich auf diesen Quadratmetern einfach nicht aus. Mit Glück, wie ich es hatte, traut man sich drüber, es gibt eben solche und solche Eigentümer. Manche lassen ihr Haus aber lieber ein Jahr länger leer stehen und warten auf den dicken Fisch.

STANDARD: Wiens Innenstadt verschreibt sich zusehends dem Luxus. Ist das der richtige Weg?

Völker: Ich brauche keinen Luxus, er gefällt mir nicht, aber ich glaube, er ist wichtig. Er bringt Touristen, diese schlafen in Hotels und gehen durch 1B- und 1C-Lagen wie die Wollzeile. Dort sehen sie Kleine wie mich. Ich habe drei Standorte in der Innenstadt. Gerade die Papeterie mit ihrem kleinpreisigen Sortiment benötigt gute Frequenzlagen.

STANDARD: Würden Sie hier gern auch sonntags aufsperren?

Völker: Auf jeden Fall, vor allem zu Stoßzeiten rund um Weihnachten, Ostern und Pfingsten, wo viele Touristen durch die Stadt ziehen. Derzeit darf ich ja nicht einmal selbst im Geschäft stehen. Ich gestalte sonntags oft meine Auslagen und muss Touristen dann auf Montag vertrösten, wo die meisten jedoch schon wieder weg sind. Ich will frei entscheiden können: entweder meinen Mitarbeitern mehr für den Sonntag zahlen oder mich selbst ins Geschäft stellen. Es gibt jedoch auch genug Studenten, die sonntags dazuverdienen wollen.

STANDARD: Der freie Sonntag ist familienfreundlicher. Setzt man hier nicht eine soziale Errungenschaft zu leichtfertig aufs Spiel?

Völker: Das ist die andere Seite, ich hätte es früher ähnlich gesehen. Ich komme vom Land, ich bin, bis ich 18 war, jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Er sollte heilig bleiben. Aber als Unternehmerin sehe ich das heute dennoch gespalten. In der Kärntner Straße verkaufen Souvenirläden sonntags den hässlichsten Ramsch aus China, vom Plastikdirndl bis zur Schneekugel. Meine Mode und Papeterie ist "Handmade in Vienna". Ich darf nicht offen halten, weil es nicht als touristische Ware deklariert ist.

Sonja Völker: "Souvenirläden verkaufen sonntags Ramsch aus China, vom Plastikdirndl bis zur Schneekugel. Ich darf nicht offen halten."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Das Internet hat rund um die Uhr offen. Wie halten Sie es mit dem Onlinehandel?

Völker: Man braucht ihn. Ich selbst bin kein Fan. Ich bestelle für mich einmal im Jahr online. Allein der Klick in den Warenkorb ist grauslich. Ich mag Sachen angreifen, spüren und streicheln. Und dann haut mir der Postler das Packerl rein. Das ist dermaßen unsexy.

STANDARD: Der stationäre Textilhandel steckt ebenso in der Krise wie der Schreibwarenhandel. Ihre Marke Herzilein bremste das nicht?

Völker: Natürlich gab es warnende Stimmen, und man fragte mich, ob ich verrückt sei. Jeder schreibe an Geburtstagen doch Mails und keine Karten. Doch Handgeschriebenes im Postkastl ist nett, man hebt es auf, es hat einen anderen Wert. Vielen Leuten ist es wichtig, nicht mit Werbekugelschreibern zu schreiben, sondern mit einem nachfüllbaren, wertvolleren. Sie brauchen davon auch nur einen und nicht zehn. Oder man will ein schönes Kinderkleid, das drei Geschwisterkinder erben. Nicht alle kommen mit Riesensäcken aus Modeketten, nach dem Motto: Wurscht, es kostet ja eh alles nichts.

STANDARD: Eine Gegenbewegung zur Wegwerfgesellschaft?

Völker: Die Leute fragen mich wieder nach Briefpapier und Kalendern. Ich habe letzte Woche aus meinem Dachboden eine Schuhschachtel geholt, Liebesbriefe ohne Ende aus meiner Zeit zwischen zwölf und zwanzig. Ich lese sie und fühle mich zurückgebeamt. Ich sage das auch meinen Kindern: Eure Nachrichten – spätestens mit dem nächsten Handy ist alles gelöscht, zack, weg. Vielleicht ist der Hype um die Papeterie in einigen Jahren gegessen. Aber momentan habe ich das Gefühl, ich hatte dafür ein gutes Händchen.

STANDARD: Wo sehen Sie Herzilein in zehn, zwanzig Jahren?

Völker: Im besten Fall interessiert sich meine Tochter fürs Geschäft. Sie ist jetzt 21, wirklich gut und sehr tough, sie studiert Unternehmensführung, war in Australien. Sie ist ganz anders als ich, checkt, organisiert, kann gut mit Zahlen, macht Buchhaltung und Personalabrechnung. Ich habe das am Land immer belächelt: der junge Installateur, der macht, was sein Papa macht. Jetzt, wo ich selbst ein Unternehmen gründete, sehe ich erst, was da dranhängt an Energie, an Leidenschaft, Zeit und Geld. Und wie dankbar man ist, wenn jemanden will, dass es weiterlebt. (Verena Kainrath, 3.2.2019)