Sebastian Kurz ist ein neuer Dollfuß. Und ein Knecht des Großkapitals. Ein Wegbereiter eines neuen Faschismus. Ein aalglatter, kalter Karrierist, dem es nur um die Macht geht. Nein, er ist die Hoffnung auf ein neues Österreich, auf eine Überwindung des alten, erstarrten und korrupten Systems. Einer, der Heinz-Christian Strache in Schach hält. Und von der Ausstrahlung her ist er ein ganz ein Lieber.

All das kann man lesen und hören, in den Diskussionen der Österreicher, in den Umfragen, in den Internetforen. Hier der Versuch, Sebastian Kurz einzuordnen, so gut es geht. Zunächst seine wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen:

Vom Grundsatz her sieht sich Kurz als Überwinder des bisherigen "Systems Österreich". In den internen Positionspapieren, die er für die Wahl 2017 anlegen ließ, heißt es, die Stimmung der Wähler sei von "Systemverdrossenheit" gezeichnet ("Es geht nichts weiter"). Das "System" ist die große Koalition, die Sozialpartnerschaft, die Konsensdemokratie seit 1945. Positiv: der Interessenausgleich; negativ: das Mauscheln. In der rot-schwarzen Realität der letzten Jahre: die Blockade.

Dieses System (und seine Repräsentanten) lehnt Kurz aus vollem Herzen ab. Sein sozioökonomisches Menschenbild: "Wo der selbstbestimmte Mensch nicht durch Regeln niedergehalten wird, sondern sich entfalten kann – selbstständig werden, im Verein, im sozialen Leben." Überspitzt formuliert hätte Kurz es gern, wenn alle Menschen Kleinunternehmer würden und sich Eigentum schaffen könnten. Den Schwachen soll schon geholfen werden, aber mit "tough love": Die Kürzung der Mindestsicherung soll sie zwingen, sich mehr anzustrengen. Das steht im diametralen Gegensatz zum sozialdemokratisch/grünen Modell, nach dem ein durchorganisierter Sozialstaat den Menschen breitflächig zu helfen hat. Kurz lehnt dieses Modell zutiefst ab, und deswegen hat er keine Bedenken, die von Rot, aber auch Schwarz dafür geschaffenen Institutionen zu zerschlagen und/oder gemeinsam mit der FPÖ zu übernehmen. Die Kaperung/Zusammenlegung der Sozialversicherungen soll erst der Anfang sein.

Big picture

Man könnte Kurz (wertfrei) also als kleinbürgerlichen Wirtschaftsliberalen bezeichnen.

Wie genau diese Vision von einer "Schaffe, schaffe, Häusle baue"-Gesellschaft am Ende aussieht, ist Kurz wahrscheinlich selbst nicht ganz klar. Seine kleine, verschworene Gemeinschaft von Jungkonservativen schrieb ihm ins Strategiepapier: "Wichtig: GROSS denken – wir zeichnen am big picture, wir drehen nicht an den kleinen Rädern." Allerdings: Groß zu denken allein reicht nicht. So ist die größte Steuerreform aller Zeiten geschrumpft. Überhaupt stellt man bei Kurz manchmal fest, dass er sich bei sachlichen Details nicht gern aufhält.

Man kann allerdings argumentieren, dass das "System Österreich" in seiner Höchstausbaustufe (etwa die unglaublich intransparenten Geldflüsse im Gesundheitssystem) dringend verändert gehört. Aber man kann auch fragen, wie wichtig dem 32-jährigen Kanzler der soziale Friede ist, der mit diesem System des Interessenausgleichs und der Konsensdemokratie einhergeht. Es gibt sehr weise Leute, die den starken Ausbau des Sozialstaates nach 1945 darauf zurückführen, dass Rot und Schwarz gemeinsam die undemokratischen Neigungen großer Bevölkerungsteile abfangen wollten.

Womit wir beim Geschichtsbild von Kurz und – entscheidend für sein Gelingen oder Scheitern – bei seinem Verhältnis zur FPÖ wären. Davon demnächst. (Hans Rauscher, 1.2.2019)