Populistische Aufrührer könnten die Verhandlungen über den EU-Haushalt zum Scheitern bringen.

Cartoon: Michael Murschetz

Werden die EU-Wahlen im Mai zu einer politischen Revolution führen? Populistische und nationalistische Parteien hoffen das sicherlich. Sie versprechen, nicht nur das Brüsseler Establishment zu stürzen, sondern auch die Freizügigkeit zu beenden, Sanktionen gegen Russland aufzuheben, die Nato abzuschaffen, auf künftige Handelsabkommen zu verzichten, politische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels umzukehren und die Ehe für alle abzuschaffen.

Viele dieser Ideen stehen schon lange in den Wahlprogrammen europaskeptischer Randparteien. Doch eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) unter europapolitischen Praktikern und Experten aus den 27 EU-Mitgliedstaaten zeigt, dass die Wähler heuer empfänglicher für solche Vorschläge sein könnten als in der Vergangenheit.

Paneuropäisches Ereignis

Früher waren Europawahlen eine überwiegend nationale Angelegenheit mit geringer Wahlbeteiligung, der wenig Bedeutung beigemessen wurde. Diese Zeiten sind vorbei. Die Wahlkampfsaison ist bereits zu einem transnationalen, paneuropäischen Ereignis geworden. Während der populistische Scharfmacher Steve Bannon aus den USA versucht, eine Koalition rechtsnationalistischer Regierungen aufzubauen, haben der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und Italiens stellvertretender Ministerpräsident Matteo Salvini ein populistisches Bündnis geschmiedet, das die Austeritätsgegner der Linken mit den Migrationsgegnern der Rechten vereinigt. Orbán und Salvini verfolgen das Ziel, die EU-Institutionen zu vereinnahmen und den europäischen Integrationsprozess von innen heraus umzukehren. Ihnen schwebt nichts Geringeres vor als eine Neubegründung des Westens auf illiberalen Werten.

Zudem wird die Wahlbeteiligung heuer gewiss weit über den üblichen 20 bis 40 Prozent liegen. So wie es den Brexit-Befürwortern gelang, drei Millionen Briten zu mobilisieren, die Wahlen normalerweise fernbleiben, könnten kontinentaleuropäische Populisten Europäer für sich gewinnen, die das Gefühl haben, von den etablierten Parteien vergessen worden zu sein. Wenn diese Wähler wählen gehen, während Anhänger gemäßigter politischer Führungsköpfe wie Angela Merkel und Emmanuel Macron zu Hause bleiben, könnten populistische Parteien deutlich besser abschneiden als in aktuellen Umfragen.

"Shutdown" der EU

Eine euroskeptische Parteigruppierung könnte laut der ECFR-Studie die Fähigkeit der EU, auf die Sorgen der Wähler sowie auf Bedrohungen ihrer fundamentalen Grundsätze einzugehen, selbst mit einer parlamentarischen Minderheit erheblich einschränken. So könnten Populisten mit nur einem Drittel der Parlamentssitze Sanktionen gegen Mitgliedstaaten blockieren, die gegen EU-Regeln und rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Derzeit verfolgt die EU solche Maßnahmen gegen die Regierungen Polens und Ungarns.

Populistische Aufrührer könnten auch die Verhandlungen über den EU-Haushalt zum Scheitern bringen und sogar einen "Shutdown" der EU auslösen, indem sie den Finanzrahmen für 2021 bis 2027 verhindern, falls sie eine absolute Mehrheit erlangen. Mit einer Sperrminorität oder der Kontrolle bestimmter Parlamentsausschüsse könnten sie internationalen Handelsabkommen und Ernennungen in die Kommission im Wege stehen.

Populisten, die Parlamentssitze erringen, werden zudem bestrebt sein, die EU-Außenpolitik zu schwächen, entweder durch das Budgetrecht oder durch Änderungen politischer Beschlüsse. Angesichts der Tatsache, dass viele europäische populistische Parteien finanzielle Verbindungen zum Kreml haben, wird das Ziel darin bestehen, die Sanktionen gegen Russland abzuschwächen. Darüber hinaus versuchen Populisten, umweltpolitische Anstrengungen wie das Pariser Klimaabkommen zu durchkreuzen.

Die Populismusfalle

Das Risiko besteht also nicht so sehr darin, dass Populisten eine parlamentarische Mehrheit erringen und alles am ersten Tag umstürzen werden, sondern dass sie in der Kommission vertreten sind und sich eine ausreichend große Minderheit sichern, um Sand ins Getriebe der Politikgestaltung der EU zu streuen. Dies wird wiederum die Durchsetzung von EU-Vorschriften behindern, nationalistische Regierungen stärken und das Vertrauen der europäischen Wähler in die Institutionen der EU weiter untergraben.

Erschwerend kommt hinzu, dass proeuropäische Parteien den europafeindlichen Parteien in die Falle gehen. In ganz Europa gehen Liberale, Grüne und viele linke Parteien wie an einen Kampf zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen – zwischen Globalismus und Patriotismus – an die Wahl heran. Dieses politische Framing wird eher den aufrührerischen Euroskeptikern helfen.

Noch ist nichts verloren

Um eine Schlappe zu verhindern, müssen Proeuropäer aufhören, sich so zu verhalten, dass die Stereotype bestätigt werden, die Populisten von ihnen als Verfechter des Status quo in Brüssel zeichnen. Das bedeutet im Vorfeld ehrliche Kritik an den Missständen in der EU zu üben und gleichzeitig die falsche Art von Polarisierung zu vermeiden, insbesondere bei Themen, bei denen sie nicht von einer klaren Mehrheit unterstützt werden.

Gleichzeitig müssen proeuropäische Kräfte beginnen, eigene entzweiende Themen für sich zu nutzen. So ist bei der entscheidenden Frage der Migration klar, dass gar keine große Übereinstimmung zwischen den Interessen von Orbán und Salvini besteht. Während Orbán alle Migranten fernhalten will, hat Salvini gefordert, dass die in Italien ankommenden Asylsuchenden in der gesamten EU verteilt werden. Die proeuropäischen Kräfte sollten Wähler in Ungarn und Italien auf diese Widersprüche aufmerksam machen.

Abgesehen von seinen anderen aktuellen Schwierigkeiten ist sich Macron zumindest der populistischen Falle bewusst. In seiner Rede zum Jahrestag des Waffenstillstands im Ersten Weltkrieg beschrieb er Patriotismus als Gegenteil von Nationalismus und verwahrte sich damit gegen das Narrativ, dass sich wahre Patrioten Globalisten widersetzen. Er hat allerdings wenig getan, um zu zeigen, wie seine Politik dazu beitragen kann, dass sich abgehängte Wähler vor den negativen Effekten der Globalisierung und der europäischen Integration geschützt fühlen.

Zumindest in der Theorie stellt der Makronismus nach wie vor die beste proeuropäische Alternative zum atavistischen Nationalismus dar. Aber um eine populistische Revolution im Mai abzuwenden, müssen Macron und andere politische Entscheidungsträger ihre Reichweite über ihren eigenen engen Kreis kosmopolitischer Eliten hinaus vergrößern. Andernfalls wären sie in die Falle der Euroskeptiker geraten. (Mark Leonard, Übersetzung: Sandra Pontow, Copyright: Project Syndicate, 1.2.2019)