Eine blutige Axt lehnt an einer Wand, darüber hängt ein Porträt von Josef Stalin. Auf einem Röhrenfernseher flimmern Nachrichten. Gezeigt werden Ausschnitte einer Pressekonferenz in Tiflis, bei der eine Roboterfrau von einer goldenen Zukunft erzählt. Willkommen in Georgien! Heimat Stalins und heute einer der größten Exporteure von Bitcoins, jener virtuellen Währung, die von Computern durch das Lösen kryptografischer Aufgaben errechnet wird.

"The Harvest"

Mit der bizarren Szene aus einer Metzgerei in der georgischen Provinz Kakheti beginnt der Dokumentarfilm The Harvest von Misho Antadze, der beim 48. Internationalen Filmfestival von Rotterdam Weltpremiere feierte. Er war einer von mehr als einem halben Dutzend Filmen im Festivalprogramm, die sich damit beschäftigen, wie die Digitalisierung unsere Welt auf überraschende Weise wandelt. Wer hätte gedacht, dass in Georgien heute mit führend bei einer Technik ist, die Know-how und immense Energiemengen verlangt.

"Data-Mining" als Bild

Antadze zeigt eine Montage von starren, unkommentierten Einstellungen, die auf die Lust zum assoziativen Denken beim Zuschauer setzt. Dabei hat der Georgier eine unmöglich scheinende Aufgabe gewählt: Welche kinotauglichen Bilder könnte ein Rechenvorgang schon hervorbringen? Punkto Körperlichkeit und damit Sichtbarkeit ist das "Data-Mining" sicher nicht mit dem echten Bergbau vergleichbar, aber mit aseptischen Serverfarmen haben die Bitcoin-Betriebe in Georgien ebenso wenig zu tun.

International Film Festival Rotterdam

In einer Sequenz wird ein junger Mann mit einem einzigen Computer gezeigt, der wie ein Heiligtum in der Mitte seines Zimmers steht und Geld errechnet. Aber es gibt auch zugige Baracken, in denen hunderte Rechner blinken und lärmen.

Die Bilder von The Harvest erschöpfen sich glücklicherweise nicht im Gegensatz zwischen Rückständigkeit und Fortschrittlichkeit. Stattdessen wird mit der Zeit deutlich, dass Begriffe wie "Serverfarm" und "Data-Harvesting" in Georgien mehr sind als metaphorische Übertragungen. Was und mit welchen Mitteln auf Farmen geerntet wird, mag sich in der seit Jahrtausenden landwirtschaftlich geprägten Region stark geändert haben, aber immer noch geht es darum, etwas zu hegen und zu pflegen und am Ende von den dadurch hervorgebrachten – mittlerweile immateriellen – Gütern zu leben.

"Present.Perfect"

Bitcoins mögen im Alltag der meisten Internetnutzer keine Rolle spielen, anders ist es mit sozialen Medien. Drei Langfilme in Rotterdam bestanden nur aus Bildern, die aus diesen beliebten Zeitfressern gezogen wurden. Darunter war der mit dem Hauptpreis, dem Tiger Award, ausgezeichnete Present. Perfect. Zhu Shengze gibt in seinem nur aus Fremdmaterial bestehenden Film einen Einblick in Chinas boomende Live-Streaming-Szene, in der Menschen ihr Leben in Echtzeit im Internet streamen – und dafür von ihren Fans Geld bekommen.

Noch spannender war allerdings Dominic Gagnons nur aus Youtube-Inhalten brillant montierter Going South, ein Film, der nichts gemein hat mit der Slow-Cinema-Ästhetik von The Harvest, ihm aber in seinem assoziativen Zugang ähnelt. Der kanadische Videokünstler hat schon mit Of the North (2016) eine experimentelle Filmanthropologie versucht. Damals schuf er eine Art Social-Media-Version des Dokumentarfilm-Klassikers Nanuk, der Eskimo (1922), die exotische Fantasien von "edlen Wilden" am Nordkreis, gründlich dekonstruiert.

"Going South"

Im Sog des Absurden

In Going South nun geht er den Motiven nach, die Menschen in den Süden treiben. Der Anblick von Sauf-, Party- und Sextouristen ist nicht schön, aber wie bei so vielen Internetinhalten: Dem Sog der irren, krassen, lustigen und absurden Bilder kann man sich – gerade auf der großen Leinwand – schwer entziehen. In gewisser Weise schlägt Gagnon mit seinem Film einen Bogen zurück zu den Anfängen der bewegten Bilder. Zu einem Kino der Attraktionen, das die Filmpioniere zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeistert hätte. (Sven von Reden, 5.2.2019)