Mit dem Synthie ein Grab schaufeln: Boy Harsher veröffentlichen ihr zweites Album Careful.

Foto: Travis Weitzmann

Gefladert oder inspiriert, man weiß es nicht. Faktum ist, dass der Opener des neuen Albums von Boy Harsher sehr nach der dramatischen Klangarchitektur der deutschen Netflix-Serie Dark klingt. Dafür hat Anja Plaschg alias Soap & Skin den Soundtrack produziert. Dessen ungeachtet, wer da die Idee zu dem grimmigen Magenheber hatte, er wuchs auf erlesenem Boden. Denn selbst wenn Boy Harsher einen Gutteil ihrer Musik aus einer Zeit beziehen, zu der sie noch gar nicht gelebt haben, scheinen sie kaum so etwas wie Legitimierungsdruck zu verspüren. Und das ist gut so.

Boy Harsher ist ein Duo aus dem US-Bundesstaat Massachusetts. Den haben einst die Bee Gees hübsch besungen. Doch das Massachusetts von Boy Harsher ist es nicht. Das Duo besteht aus Jae Matthews und Augustus Muller und hat eben sein zweites Album veröffentlicht. Es heißt Careful und ist großartig. Zumindest für eine Zielgruppe, die mit frühem Synthie-Pop, Minimal und dem Farbton Mattschwarz etwas anfangen kann.

Blasse Haut und Augenringe

Boy Harsher firmieren unter dem Begriff Dark Wave. Also New Wave am Friedhof. Blasse Haut, Augenringe, Vitamin-D-Mangel, was soll das für ein scheiß Leben sein? Natürlich ist das eine Pose, aber eine, die aus Verlorenheit, Sehnsucht und Zweckpessimismus entspringen.

Face the Fire von Boy Harsher.
Boy Harsher

Matthews und Muller teilen sich den Job bei Boy Harsher konventionell. Er steht an der Maschine, sie am Mikrofon. Die Verzweiflung ist als Gastgefühl omnipräsent, vor dem Abnippeln will man aber wenigstens einmal ordentlich Abtanzen. Mehr als dieses Album und eine zehn-Watt-Funse braucht es dazu nicht.

Retro-Moden als Kollateralsegen

Als Resultat entstand ein tolles Synthie-Pop-Album. Depeche Mode winken rüber, New Order ziehen dort drüben die Schultern hoch, Anne Clark geht einmal durchs Bild. Kann sich jemand an die Getriebenheit von Yazoo erinnern?

Retro-Moden wie sie von – schon wieder – Netflixserien wie Stranger Things populär gemacht werden, sind ein Kollateralsegen für diese Musik. Zeitzeugen mögen das argwöhnisch als Kopistentum oder berechnend kritisieren. Einspruch abgelehnt.

Tanzen im Darknet

Denn wann hat man einen der genannten Acts zuletzt so überzeugend gehört wie dieses Duo hier? Boy Harsher balancieren Beherrschtheit und Obsession mit großer Verve. Das Album kommt gemächlich in die Gänge. Face The Fire ist ein stimmungsvoller erster Hit, beim vierten Track, LA schöpfen sie aus dem Vollen, lassen Depeche Mode und New Order kollidieren – der Dancefloor im Darknet ist gut gefüllt mit Lonern, die sich beim Tanzen auf die Fußspitzen schauen.

LA von Boy Harsher.
Boy Harsher

Matthews schmachtet sich einsilbig durch die knappen Texte. Worüber sie genau singt, versteht kein Mensch, wie sie es tut, ein jeder. Suche, Flucht, Verlangen, Ekel – alle Zutaten für ein großes Drama sind enthalten. Der Rhythmus pumpt, Matthews streckt die Hand aus: "Come Closer", singt sie.

Come Closer von Boy Harsher.
PIPER WAVE Underground Music Video

Nähe wird ersehnt, die Unfähigkeit dazu gibt’s gratis obendrauf. Das Verlangen kippt ins Ungesunde. Wo soll das hinführen? Immer auf der Suche. Atemlos. Atemberaubend. Ein erstes Album des Jahres? Allemal. (Karl Fluch, 5.2.2019)