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Buddy Holly kann man als ersten Nerd der Popmusik bezeichnen. Heute ist der Nerd ein längst etablierter Mainstream-Typ.

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Don McLean gelang 1971 ein Welthit. Im Lied American Pie besang er den Tag, an dem die Musik gestorben sein soll. Seine Wehmut galt dem Tod von Buddy Holly, Ritchie Valens und Jiles Perry Richardson alias The Big Bopper. Die drei Rock-'n'-Roll-Pioniere waren am 3. Februar 1959 bei einem Flugzeugabsturz in Iowa ums Leben gekommen.

Mit Buddy Holly starb vor 60 Jahren aber nicht nur der erste Rock-'n'-Roll-Star, mit dem 22-Jährigen starb der erste Nerd des Rock 'n' Roll. Der Begriff Nerd lässt sich mit Schwachkopf, Streber übersetzen, beschreibt aber auch intelligente Sonderlinge. Im triebgesteuerten Rock 'n' Roll der 1950er-Jahre galt Buddy Holly als sittliche Ausnahme. Er sah aus wie ein Bürohengst: Anzug von der Stange, schmale Schultern und ein Nasenfahrrad wie der Papa.

Vor die Wahl gestellt, ob man seine Tochter Elvis, Chuck Berry oder Jerry Lee Lewis anvertrauen würde, erhielte natürlich Buddy Holly den Zuschlag. Der durchmaß die Bühne nicht wie eine Ente, kreiste nicht lüstern die Hüften, rammelte nicht mit dem Becken das Klavier über die Bühne. Mit seinen geölten Locken sah er arg- und harmlos aus.

Buddy Holly und die Crickets spielen einen Klassiker: That'll Be The Day.
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Zwar präferiert Rockmusik bis heute das Image des Revoluzzers. Doch als Rock- und Popmusik in den 1960ern globalen ausarteten, schlichen sich die ersten Normalos ein. Etwa die immens erfolgreiche Folk-Pop-Gruppe The Seekers aus Australien. Vier propere junge Menschen mit Judith Durham als Goldkehlchen, den Bass zupfte Athol Guy: Auf seiner Nase saß eine Hornbrille, wie sie nur eine Krankenkasse anbietet.

Die unglaublichen Seekers: Nerds mit göttlicher Musik. The Carnival Is Over.
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Die Brille galt als Identifikationsmerkmal der Nerds. Sie signalisierte Interesse an Dingen, die im lustgesteuerten Hedonismus des Rock keinen Platz fanden. Wozu sollten Ozzy Osbourne, Gene Simmons oder Robert Plant sich mit Büchern aufhalten, wenn Drogen und Groupies im Angebot waren? Die Brille gilt bis heute als Nerdsymbol. Gibt man bei Youporn den Suchbegriff Nerd ein, tauchen Menschen auf, die nur eines mit Sicherheit anhaben: eine Brille.

Elvis und die Talking Heads

Die Zäsur des Punk bescherte Nerds einen Auftrieb. Nach langen Jahren der wilden Hippies und der Extravaganz der Glam- und Hardrocker mit ihrer Schminke, den Spiegelwesten, Spandexhosen und Gürtelschnallen, so groß wie Suspensorien, hielt der graue Alltag Einzug. Mit Typen wie Elvis Costello.

Der Brite trug nicht nur die obligatorische Hornbrille, er konnte sogar auf eine damals noch unübliche Vergangenheit als Computerprogrammierer verweisen, einem Nerdgütesiegel der Zukunft. Oder mit den Talking Heads. Die wirkten wie Typen, denen die Mutti noch das Gewand richtete, trugen biedere V-Pullover über Vertreterhemden.

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Das passte zur zappeligen Musik und ihren Inhalten. Sie sangen nicht darüber, wie sie es ihrem Baby besorgen würden, um anschließend mit der Harley in den Sonnenuntergang zu rasen. Die New Yorker sangen über die Annehmlichkeiten eines Neubaus, Bücher und ähnlich triebhemmende Themen.

Fehlende soziale Kompetenz

Nerds waren ein Gegenentwurf zum Machismus des Rock. Sie gaben nicht vor, mit der jaulenden Gitarre im Schritt Lösungen anzubieten; ihre Themen waren Probleme, die sie ohne politische Agenda besangen. Das Protestlied hätte eine soziale Kompetenz vorausgesetzt, über die ein gemeiner Nerd nicht verfügt. Bands wie die Feelies oder Devo zappelten nur in eigener Mission durch ihre Songs und Videos.

Probleme statt Lösungen: Die Feelies aus Hoboken, New Jersey, mit Loveless Love.
Vilosophe

Nerd-Popbands eigneten sich eine kulturellen Taktik an, die in der afroamerikanischen Kultur Tradition hat: der Begriffsumdeutung von etwas Schlechtem in etwas Lässiges. Beispiel: funky. Das stand ursprünglich für "schmutzig" und "stinkig". Der Korb mit der Schmutzwäsche, der war funky. Die afroamerikanische Musik verkehrte den Begriff zu etwas um, das sexy und verführerisch ist. Nerds dagegen deuteten die Zuschreibung uncool um. Uncool war plötzlich cool. Das gipfelt in der Gegenwart in der Sichtung eines T-Shirts, auf dem stand: "Wir waren schon uncool, bevor uncool cool wurde." Nerdpower in full force.

Ironie und Tiefstapelei

Je selbstverständlicher die Normalität im Pop wurde, umso mehr musste sie aber übertrieben werden. Als 1994 die Band Weezer auftauchte, verpasste sie sich ein Image, das sie bei Bands wie den Feelies abgeschaut hatte – und besang in ihrem ersten Hit kalt berechnend Buddy Holly.

Gelehrige Feelies-Schüler: Weezer singen 1994 ein Lied auf Buddy Holly.
WeezerVEVO

Andere bedienten sich vermeintlich exotischer Instrumente. Die Ziehharmonika zählt da im Rock 'n' Roll nicht gerade zur ersten Wahl. Das Duo They Might Be Giants aber verwendeten die Quetsche immer wieder in ihren verschrobenen Songs über verschrobene Themen und machte damit Weltkarriere. Die gelang ihm unter anderem mit dem Titellied der Fernsehserie Malcolm in the Middle. Diese spielt in einem Haushalt, dessen Kinder das Nerduniversum und seine Probleme prototypisch abbilden.

They Might Be Giants. Hier zwar ohne Quetsche, aber auch nicht ohne exzentrisches Instrumentarium.
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Zur Ironie und ihrer Brechung kam in den 1990ern noch die Tiefstapelei. Nirvana-Chef und Sonderling Kurt Cobain tourte mit T-Shirts durch die Welt, auf denen das Wort "Loser" gedruckt war. Ein smartes Kid aus Los Angeles nahm diese Vorlage dankbar an und dichtete: "I'm a loser baby, so why don't you kill me?"

Nerds am Laptop

Der Name des jungen Mannes war Beck – und der war natürlich ein Vollnerd, einer mit einem Welthit. Damit brach der Damm endgültig. Heute hat sich der Reigen der Nerds um die Laptopmusiker erweitert.

Der Musiker Buddy Holly mag vor 60 Jahren für immer verstummt sein, den Nerds im Pop steht er bis heute unsterblich Pate. Auch wenn manch ein Nachfolger heute etwas illoyal Kontaktlinsen den Vorzug gibt. (Karl Fluch, 6.2.2019)