Yasin Cakir bei seiner Arbeit als Korbflechter im Blinden- und Sehbehindertenförderungswerk in Wien. Seit er 15 Jahre alt ist, sieht er nichts mehr – zumindest nicht mit den Augen. Das Licht schaltet er abends trotzdem ein.

Foto: Nathan Murrell

Dieser Artikel erscheint im Rahmen eines Schwerpunkts im RONDO zum Thema Licht.

Foto: Nathan Murrell

"Ich sehe absolut nichts. Doch das war nicht immer so. Als Kind wuchs ich in einem Dorf in der Türkei auf, damals konnte ich noch die eine oder andere Silhouette im Schein des Lichts wahrnehmen. Es war nicht möglich, festzustellen, über wie viel Prozent Sehkraft ich verfügte. Viel war es nicht. Ich erinnere mich an die Form von Tomaten, Paprika und ein paar anderen Pflanzen. Meine Mutter war Gärtnerin. Ich kann nicht sagen, wie sie aussah, aber ich vergesse nie, wie der Arzt zu meinen Eltern sagte, ich würde mein Augenlicht ganz verlieren. Als er gegangen war, sagte meine Mutter, ich hätte mich verhört. Habe ich aber nicht. Ab jenem Tag habe ich meine Augen geschlossen, um für die Zeit zu üben, in der ich überhaupt nichts mehr sehen würde.

Mit 15 war dann alles um mich dunkel. Das Leiden heißt Retinitis pigmentosa, das ist eine Form von Netzhautdegeneration. Bis heute ist es unheilbar. Ich denke nicht darüber nach, ob sich das irgendwann ändern könnte. Hoffnung ist kein Thema für mich. Es ist, wie es ist.

"Wien ist eine wunderschöne Stadt"

Anfangs hat mir der Besuch der Blindenschule in Ankara geholfen, denn dort waren alle blind, und wir machten sogar Witze darüber. Dort haben wir gelernt, mit unseren Händen zu sehen und positiv zu denken. Das tue ich bis heute. Ich mache alles selbst, gehe sogar ins Fitnesscenter. Wien ist für mich eine wunderschöne Stadt. Wie ich das behaupten kann? Nun, haben Sie schon mal einen Baum ertastet? Wenn ich eine Pflanze berühre, entsteht in meinem Kopf ein Bild. Dabei hilft es mir sehr, die Brailleschrift gelernt zu haben, sie lässt mich Dinge be-greifen. Außerdem, aber das dürfte bekannt sein, sind die restlichen Sinnesorgane eines Nichtsehenden viel stärker ausgeprägt als bei Sehenden. Dadurch kann ich vieles kompensieren. Wenn ich einem Menschen die Hand gebe, weiß ich, wie groß er ist und bekomme eine Vorstellung von seiner Statur.

Wenn mir jemand sagt, "denke an eine Rakete", dann stelle ich mir vor, eine Rakete ist ein schnell fliegender Ball oder ein Ei. Das sind beides Dinge, die ich erfühlen kann. Ich baue mir meine eigene Welt. Vielleicht sehe ich in dieser sogar mehr als andere. Sagt jemand, etwas ist Rot, fällt mir Blut ein, bei Weiß der Geschmack von Milch und Joghurt. Geht es um Blau, denke ich ans Meer, das ich hören kann. Das Meer ist blau, sagt man. Ich trage übrigens gern Rosa und Schwarz. Das ist einfach so.

Zum Thema Licht fällt mir die Sonne ein, die ich gut spüren kann. Licht ist für mich Wärme. So unterscheide ich zwischen Licht und Schatten. Ich denke aber auch daran, dass ich bei mir zu Hause abends das Licht einschalte, obwohl das theoretisch sinnlos ist. Ich erfühle am Lichtschalter, ob die Deckenleuchte ein- oder ausgeschaltet ist. Dabei kriege ich nicht einmal mit, wenn die Glühbirne gewechselt gehört. Das ist ähnlich wie mit dem Badezimmerspiegel und dem Rasieren. Mein Vater fragte mich, warum ich mich vor dem Spiegel rasiere. Für mich ist das Teil des Alltags, das gehört zum Wohnen.

Traumfrau

Vor kurzem habe ich eine Frau gefunden, sie ist 1,55 Meter groß, entspricht also nicht meiner Traumfrau. Die müsste schwarze Haare und grüne Augen haben und 1,74 groß sein. Das ist so eine fixe Idee. Ansonsten aber ist sie wunderbar. Ich sehe sie, indem ich sie berühre und höre. Wenn die Stimme schön ist, dann passt alles. Und sie ist schön. Meine Frau ist auch sehbehindert, sie sieht 40 Prozent. Ich könnte niemals mit einer sehenden Frau eine Familie gründen. Das gäbe irgendwann ein Problem, denn wir Sehbehinderten wollen nicht als Menschen mit Handicap behandelt werden. Wir wollen nicht, dass man uns ständig am Händchen nimmt.

Wenn Sie das lesen, dürften Sie merken, dass es mir gutgeht. Ich habe nur ein Problem. Das entsteht, wenn ich auf der Straße oder in der U-Bahn respektlos behandelt werde. So etwas kommt leider immer wieder vor. Das ist auch der Grund, warum viele Nichtsehende eine Sonnenbrille tragen. (Michael Hausenblas, RONDO, 11.2.2019)