Die Sozialdemokratie ist europaweit auf der Sinnsuche. Sie eilt von einer Wahlniederlage zur nächsten und wird von Flügelkämpfen gelähmt. In Deutschland hat der junge SPD-Parteitheoretiker Nils Heisterhagen mit seinen Thesen über den politischen Snobismus der Linken für heftige Debatten gesorgt. Auf Einladung des Bruno-Kreisky-Forums war Heisterhagen in Wien, um über sein Buch Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen (Dietz-Verlag, 2018) zu diskutieren.

STANDARD: Sie fordern in Ihrem Buch einen "linken Realismus". Wahrscheinlich würde sich niemand als "unrealistischen Linken" beschreiben. Jeder ist am liebsten ein Realist – was meinen Sie also?

Heisterhagen: Es geht mir vor allem darum, dass man sich nicht in wolkige Debatten darüber verstrickt, wer denn nun das richtige "Weltbild" besitzt und die edlere Sicht auf die Welt hat. Viele Linke beschränken sich heute leider darauf, irgendwelche Entgleisungen von Rechtspopulisten empört aufzugreifen. Da kommentiert man dann stundenlang die Kommentare von Herrn Strache oder von rechten Wirrköpfen, anstatt sich auf das zu konzentrieren, was immer die Stärke der Linken war.

STANDARD: Was wäre das?

Heisterhagen: Die Linke war immer dann erfolgreich, wenn Sie schonungslos die sozialen Verhältnisse angesprochen hat. Niemand braucht eine Sozialdemokratie, die ihre Augen vor den Exzessen des Kapitalismus verschließt und nur über Toleranz und sprachliche Diskriminierung redet. Man muss schon dorthin schauen, wo es brodelt, riecht und stinkt. Es ist ja nicht so, dass die Reallohnentwicklung in den letzten Jahrzehnten rosig war. Die Mietpreise schießen in die Höhe, viele haben permanent Angst vor dem sozialen Abstieg. Die hohen Funktionäre von SPD und SPÖ können sich da kaum hineinversetzen, weil sie selber meist aus der oberen Mittelschicht und dem öffentlichen Dienst kommen. Die sehen diese Probleme in ihrer eigenen Lebenswelt einfach nicht. In diesen Kreisen wird mehr Wert auf politische Korrektheit gelegt als auf politische Ökonomie.

STANDARD: Wenn es um politische Korrektheit geht, hat auch jeder recht schnell eine Meinung parat. Ist es nicht logisch, dass darüber mehr diskutiert wird als über Lohnquoten und Industriepolitik?

Heisterhagen: Das stimmt schon, die soziale Frage kann man nicht mit einem Tweet zwischendurch abhandeln. Dazu muss man sich in wirtschaftliche Statistiken vertiefen und sich mit den Machtverhältnissen am Arbeitsmarkt befassen. Das erfordert viel Arbeit und Hirnschmalz, aber für diese Arbeit darf man sich nicht zu schade sein, wenn man politisch was verändern will. Ich habe den Eindruck, dass manche Linke daran in Wahrheit gar kein echtes Interesse haben. Genau das meine ich mit dem Buchtitel Die liberale Illusion. Für die neuen Linksliberalen ist politische Ökonomie ein Fremdwort. Die wollen sich auf die wirklichen politischen Kämpfe mit dem Kapital gar nicht mehr einlassen. Stattdessen moralisieren sie und belehren diejenigen, die eigentlich die Stammklientel linker Politik sein müssten. Und das sind nun mal jene, die gerade noch so über die Runden kommen oder die mit Sorge in die Zukunft blicken, auch wenn es ihnen noch gutgeht. Wenn die Sozialdemokratie das nicht begreift, wird sie zerbröseln und von der politischen Bühne gefegt werden.

STANDARD: Es gibt Politologen, die das weniger dramatisch sehen. Die akademischen Mittelschichten sind eine wachsende soziale Gruppe. Wenn man bei denen erfolgreich ist, kann die Sozialdemokratie das Abwandern der klassischen Arbeiter zu den Rechten mitunter kompensieren.

Heisterhagen: Ich sage ja nicht, die Sozialdemokratie muss wieder eine Arbeiterpartei werden. Ich will auch die besser situierten Wähler nicht geringschätzen. Es wäre aber ein gewaltiger Fehlschluss, würde man die Stammklientel der Linken einfach aufgeben. Man muss sich ernsthaft für die Lebenslagen der weniger Betuchten interessieren, sonst kann man SPD und SPÖ gleich zusperren. Natürlich darf man die Meinung haben, dass eine Gleichstellungspolitik wichtiger ist als die ökonomische Lage der breiten Masse. Dann wird man bei den Grünen oder Liberalen aber ohnehin gut aufgehoben sein.

STANDARD: Spielen Sie da nicht eine sozialpolitische Agenda allzu sehr gegen gesellschaftsliberale Ziele aus? Als SPÖ und SPD in den 1970ern außergewöhnlich erfolgreich waren, ging es ja nicht nur um den Ausbau des Sozialstaates. Gesellschaftsliberale Ziele wie die Gleichstellung der Frau im Eherecht waren keine Nebensache.

Heisterhagen: Das bestreite ich auch gar nicht. Willy Brandt hat zu Recht gesagt, die Sozialdemokratie muss eine "Sowohl als auch"-Politik machen. Ich sage aber ganz klar: Seit den 1990er-Jahren hat man die handfeste, materialistische Politik schleifen lassen und sich wirtschaftspolitisch mit den Neoliberalen verbündet. Die Wirtschaftsprogramme der Linken waren bestenfalls ein "Neoliberalismus light". Dass man sich dermaßen auf den unregulierten Markt verlassen hat und sich nicht mehr getraut hat, den Kapitalismus einzudämmen, war eine Katastrophe. Und ich behaupte eben, dass der Grund dafür ein einseitiger Fokus auf identitätspolitische Themen war. Ohne geisteswissenschaftliches Studium kann man gar nicht verstehen, worüber da oft diskutiert wurde. Kein Wunder, dass sich viele Menschen von der Linken entfremdet fühlen.

STANDARD: Das linksliberale akademische Milieu kommt bei Ihnen generell schlecht weg. Man liest von "Heuchlern", "Snobismus", "Elfenbeinturmsprache" und vom "Biobürgertum". Andererseits plädieren Sie für eine Einheit der Linken. Wieso sollte sich jemand von Ihnen überzeugen lassen, der von vornherein pauschal abgekanzelt wird?

Heisterhagen: Möglich, dass ich manchmal zu polemisch bin. Mein Buch ist andererseits von der Form her eine Streitschrift, und da darf man schon mal in Rage geraten. Ich bin lange genug bei der SPD, und es braucht einfach mal einen Schuss vor den Bug, damit die Leute den Ernst der Lage erkennen. In Holland hat die Sozialdemokratie sechs Prozent, so schnell kann's gehen. Vielen Funktionären in linken Parteien genügt es, moralisch immer im Recht zu sein. In der Politik geht's aber nicht darum, recht zu haben, sondern recht zu bekommen. Diese linksliberale Überheblichkeit geht mir auf die Nerven. Wenn man nicht gewählt wird, dann muss man ein besseres politisches Angebot formulieren, um recht zu bekommen.

STANDARD: Wie sähe dieses Angebot aus?

Heisterhagen: Viele Leute aus den unteren Mittelschichten wählen jetzt rechts, obwohl sie in Wirtschaftsfragen eigentlich links sind. Jedenfalls aber keine Neoliberalen. Nur können sie mit der linksliberalen Feier der kulturellen Diversität nichts anfangen und wählen darum die Rechtspopulisten. Für diese Menschen braucht es eine Alternative. Kurz gefasst: Bei ökonomischen Themen einen Ruck nach links, in Migrationsfragen sollte man sich eher nach rechts bewegen.

STANDARD: Wo ist da die programmatische Klammer?

Heisterhagen: In beiden Fällen geht es um Sicherheit, nur eben nicht einseitig um innere Sicherheit, wie es die Rechten trommeln. Es braucht beides, soziale Sicherheit und innere Sicherheit, um der Angst vieler Leute entgegenzuwirken. Leute aus den unteren Mittelschichten fürchten sich ja vor allem, weil sie ihre soziale Sicherheit bedroht sehen. Da muss man mit ganz klassischer linker Wirtschaftspolitik was dagegen tun. Also höhere Mindestlöhne erkämpfen und dem Neoliberalismus einen starken Sozialstaat entgegensetzen.

STANDARD: Und bei der inneren Sicherheit?

Heisterhagen: Eine realistische Position wird nicht die Augen davor verschließen können, dass gerade Ärmere am meisten von Kriminalität in schlechten Gegenden betroffen sind. Den linksliberalen Glaubenssatz, dass es keine Sicherheitsprobleme durch Migration gibt, kann man niemandem mehr weismachen. Insofern sollte eine realistische Linke hier eine harte Linie fahren.

STANDARD: Auf die Gefahr hin, dass sich dann viele "linksliberale Kosmopoliten" bei den Grünen besser aufgehoben fühlen?

Heisterhagen: Das kann sein, muss aber nicht sein. Diese Leute sind ja nicht blöd, man kann sie mit einem mutigen linken Programm überzeugen. Wenn die sehen, dass es eine konsequent realistische Alternative zur identitätspolitischen Wolke gibt, werden die mitgehen. Ich bin kein Fan diffuser wahlarithmetischer Überlegungen. Mutloses Taktieren hat immer nur geschadet. Wer sich überall wegduckt und niemanden verschrecken will, den wählt am Ende sowieso niemand mehr.

NILS Heisterhagen (30) ist Philosoph. Er ist langjähriges Mitglied der deutschen Sozialdemokraten und war Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Rheinland-Pfalz.

B I L D U N T E R S C H R I F T: Nils Heisterhagen kann mit identitätspolitischen Debatten wenig anfangen. Die Linke solle stattdessen mehr über politische Ökonomie reden.

Foto: Regine Hendrich

(INTERVIEW: Theo Anders, 8.2.2019)