Jean François Billeter, "Europas Zukunft", aus dem Französischen von Tim Trzalkalik, 8,- Euro / 60 Seiten, Matthes und Seitz, Berlin 2019

Cover: Matthes & Seitz Berlin

Der Schweizer Jean François Billeter (Jg. 1939) ist Sinologe, einer der Großen seines Fachs. Als er in den 1960ern als Student nach China reiste, reiste er in ein armes Land. Heute präsentiert sich China auf der Weltbühne als kraftstrotzende, selbstbewusste Großmacht, die, so Billeter, einen "verschleierten Krieg" gegen Europa und "westliche" Werte führt, weil diese die Diktatur der Partei in Verruf bringen könnten: Demokratie, Gewaltenteilung, Grund- und Menschenrechte.

Auch von jenseits des Atlantiks, aus Trumps Amerika, bläst Europa scharfer Wind entgegen. Im Inneren des Kontinents wiederum prosperieren Populisten und Demagogen, die aus der politischen Schwäche der EU billigen Profit schlagen. Wie kann Europa je aus dieser Klemme herauskommen?

Europäische Institutionen

Mit dieser Frage beschäftigt sich Billeter mit seiner knappen, aber überaus animierenden Schrift Europas Zukunft. In manchen Aspekten erinnert sie an das polemische Bändchen Empört Euch!, mit dem der französische Diplomat Stéphane Hessel vor etlichen Jahren im Gefolge der Bankenkrise einen publizistischen Überraschungshit landete. Da wie dort ist es großartig, wenn sich ihrer Verantwortung bewusste Intellektuelle im fortgeschrittenen Alter ihr Feuer zu bewahren wissen und unverdrossen nach vorn schauen.

Billeter ruft die Europäer zu nicht mehr und nicht weniger auf als zu einer Revolution. Darunter versteht er einen einer gemeinsamen freien, politischen Entscheidung entspringenden Neugründungsakt, mit dem der eklatanteste Mangel Europas beseitigt wird: der an "Institutionen, die es den Europäern erlauben würden, sich demokratisch darüber zu verständigen, was sie zusammen tun wollen".

"Regionenkammer"

Dass es diese nicht gibt, ist dem Fortbestand der souveränen Nationen geschuldet: Souveräne Nationen und ein souveränes, starkes und demokratisches Europa sind gleichzeitig nicht zu haben – wer beides will, bekommt weder das eine noch das andere, meint Billeter.

Die von ihm ersehnte Republik verfügt über ein Parlament mit direkt von den Bürgern gewählten Abgeordneten, darüber hinaus aber über einen Senat, der nicht von den Ländern ("Nationen") beschickt wird, sondern – und hier schließt er an die Politologin Ulrike Guérot an – von den Regionen.

Eine solche "Regionenkammer" würde verbürgen, dass das Ungleichgewicht von großen und kleinen Staaten verschwindet und das demokratische Leben Europas insgesamt bereichert wird.

Ebenso umwälzend sind Billeters ökonomische Zielvorstellungen. Die Omnipotenz der Märkte, die die Staaten schwächt und die Europäer spaltet, gehört beseitigt, um den "Vorrang der Politik gegenüber der Wirtschaft wiederherzustellen".

Last, but not least auf seiner Zukunftsliste: "Die Republik wird auch die volle Gleichheit der Geschlechter verwirklichen (...) und insbesondere das Werk der Frauen sein." Klingt nach viel "wishful thinking"? Gewiss. Aber nach einem, von dem wir noch mehr bräuchten, um Europa aus dem Dauerzustand der Versteinerung zu erlösen. (Christoph Winder, Album, 10.2.2019)