Philosophin Bettina Stangneth trotzt der Allgegenwart der Ratgeberliteratur.

Foto: Dieter Rielk

Vernunft ist das Gegenteil von Hysterisierung. Wer also "das Gemeinschaftserlebnis in der Empörung sucht, missbraucht sein eigenes moralisches Interesse als Vehikel, nach Belieben seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen". So quittiert die deutsche Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth in ihrem neuen Buch Hässliches Sehen die Aufregerhektik von heute.

Der Satz ist nicht die steile Ansage am Beginn, sondern gehört, nach hellsichtigen, teilweise ironisch formulierten Überlegungen über Aufklärung, Moral und Wahrnehmung, bereits zu den Schlussfolgerungen des Bandes. Die Autorin hat einen Verdacht: Notorische moralisierende Entrüstung weist auf eine unterschwellige Lust am Unmoralischen hin.

Mit Hässliches Sehen hat Stangneth eine Trilogie über dialogisches Denken abgeschlossen, deren erster Teil Böses Denken als Warnung vor der heute grassierenden Antiaufklärung viel Aufmerksamkeit erregt hat. In Teil zwei erörtert die Autorin unter dem Titel Lügen lesen, wie stark die Täuschung im Leben verankert ist und welchen Luxus die Wahrheit darstellt. Nun wird der so selbstverständlich gewordenen Anbetung des Bildes eine Absage erteilt. Stangneth argumentiert für eine "Befreiung der Wahrnehmung" von der Vereinnahmung durch interessengeleitetes Denken.

Keine Abkürzung zum Fortschritt

Bilder sagen für Bettina Stangneth nicht mehr als tausend Worte, sondern im Gegenteil "gar nichts". Die so beliebte Veranschaulichung des Verwerflichen durch eine "Schule des hässlichen Sehens" ist folglich leider keine Abkürzung zum ethischen Fortschritt. Das lässt sich schon allein am Fehlen ihrer positiven oder negativen Wirkung ablesen. Ganz offensichtlich machen weder all die "unzähligen Bilder des Guten und Wahren", die unsere Kulturgeschichte durchziehen, den Menschen besser noch bewirke der tägliche Mord- und Totschlag in Film oder Theater ein Ansteigen von Tötungsstatistiken.

Wenn sich alles darauf stürzt, vor allem das Hässliche zu sehen, meint Stangneth, geht das an einer "moralischen Kultur" vorbei, weil dieses Sehen "nichts von dem Sehenden verlangt, als sich zu empören". Dahinter steht eine sinistre Logik, die nach Beispielen für unmoralisches Handeln anderer sucht, um das eigene zu entschuldigen. Dabei werde vor allem der "Hass zur Kultur erklärt" und zudem jeder für naiv gehalten, der an die Existenz von Moral glaubt.

Kunst muss uns nicht retten

Das betrifft auch die Kunst. Der wachsenden Schar von Kulturmenschen, die sich in die Idee von der Verbesserung der Welt durch moralisch astreine Kunstwerke verbeißen, bietet Stangneth eine Gelegenheit, sich zu entspannen. Kunst gehört nicht vor den Karren des Weltheils gespannt! Denn wer sie "zum pädagogischen Mittel verengen möchte, nimmt ihr gerade das, was sie tatsächlich zu leisten vermag, nämlich ein Freiraum zu sein, in dem wir das Spiel unserer Erkenntnisvermögen erproben und unsere Vorstellungen vergleichen können".

Bravkunstprediger wie Bilderstürmer eint in Stangneths Band der Irrglauben an eine unmittelbar "handlungsanleitende Erkenntnis" durch das Bild. Doch was wir fürchten, wenn wir Bilder fürchten, das sind wir selbst, schreibt die 53-Jährige. Wer Kunst wie in früheren Zeiten wieder mit Warnhinweisen und Zensur eingrenzt, begeht schlicht Realitätsflucht.

Was tun? Bettina Stangneth setzt auf die gemeinschaftsbildende Kraft der Vernunft. Damit ist allerdings nicht ein sedierendes "Sei doch vernünftig!" gemeint, sondern die offensive "Ausrichtung unseres Lebens an der Vernunft". Argumentationshilfe dafür kommt vor allem von Stangneths favorisierten Dialogpartnern Immanuel Kant und Hannah Arendt. Wie die früheren beiden Bände ist auch Hässliches Sehen locker geschrieben, gleitet aber nie in die Niederungen der philosophischen Ratgeberliteratur ab. (Helmut Ploebst, 8.2.2019)