"Stoppt die Verordnungen, nicht unsere Kunden", fordert eine Sexarbeiterin bei einer der Demonstrationen gegen die Strafen in Paris.

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Das Geschäft ist an diesem Nachmittag eher flau am Boulevard Saint-Denis. Im gleichnamigen Bistro kratzt eine Frau mit blond gefärbten Haaren an einem Rubbellos und wartet auf Kundschaft. Zugleich spricht sie in einer slawischen Sprache in ihren Busen, wo sie ein Handymikrofon eingeklemmt hat. Französisch versteht sie nicht.

"Auf der Nordseite des Boulevards sind die Rumäninnen", weiß dafür ein Zeitungsverkäufer, um dann mit dem Daumen über seine Schulter zu zeigen: "Und auf der anderen Seite sind die Chinesinnen." Letztere stehen zu dritt vor den Schaufenstern einer bekannten Kleiderkette. Andere flanieren zwischen den Passanten, wobei sie ihnen diskrete, aber eindeutige Blicke zuwerfen. Ab und zu verschwinden sie um die Ecke. Kurz darauf folgt ein Mann. Unklar ist: Folgt er ihr?

Bis zu 1.500 Euro Strafe

Sicher ist, dass die Frauen aus Fernost auf der Hut sind. Ihre Kunden werden gestraft, wenn sie von der Polizei in flagranti erwischt werden. Bis zu 1.500 Euro Strafe setzt es, im Wiederholungsfall 3.750 Euro. Zudem kann der Richter einen "stage de sensibilisation" anordnen, einen Kurs, in dem über die Varianten moderner Sklaverei aufgeklärt wird.

So will es ein Gesetz aus dem Frühjahr 2016. Nach einigen skandinavischen Ländern hatte damals auch Frankreich Bußen für Freier eingeführt. Das sei ein Paradigmenwechsel, freute sich die sozialistische Frauenrechtsministerin Najat Valaud-Belkacem in der Parlamentsdebatte: Nicht mehr die Prostituierte werde bestraft, sondern der Kunde, der "Sexkäufer".

Zwang und Freiwilligkeit

Die Debatte um das Freiergesetz bleibt bis heute hitzig. Und sehr grundsätzlich. Feministinnen wollen die Prostitution insgesamt abschaffen, da sie auf der Macht des zahlenden Mannes über die Frau beruhe. 90 Prozent der 37.000 Sexarbeiterinnen in Frankreich sind Ausländerinnen. Die meisten reisen über Schleppernetze illegal aus dem Ausland ein und enden unter der gewalttätigen Kontrolle von Zuhältern.

Die Prostituierten von "Strass", dem französischen "Syndikat der Sexarbeit", bestreiten das nicht. Sie wenden aber ein, es gebe auch "freiwillige" Prostitution ohne Aufpasser. Frankreich benehme sich heuchlerisch: Das älteste Gewerbe der Welt bleibe legal, aber die Ausübung werde bestraft. Der Staat treibe von den Prostituierten Steuern für ihre Arbeit ein, bestrafe aber ihre Kunden.

"Das ist gegen die Freiheit"

"Das geht doch nicht", sagt auch Vanessa in der Rue du Ponceau, einer Seitengasse des Saint-Denis-Viertels. Sie sei "une traditionelle", eine von der alten Schule, sagt die ältere Frau: Sie arbeite ohne Zuhälter und fahre wie zahllose Französinnen auch täglich aus einem Vorort zur Arbeit ins Stadtzentrum. Die Strafen für Freier seien "eine Schande", sagt sie: "Das ist gegen die Freiheit, die Demokratie."

Allerdings habe die Polizei noch nie einen ihrer Kunden bestraft, sagt Vanessa. Obwohl das Gesetz schon fast drei Jahre in Kraft ist? "Die Polizisten haben es eher auf die Mädchen aus dem Osten abgesehen, weil die im Griff der Mafia sind", sagt sie. "Uns Französinnen lassen sie in Ruhe. Aber das könnte sich mit dem Gerichtsurteil nun auch ändern."

Zulässige Strafen

Gemeint ist der Entscheid des französischen Verfassungsgerichtshofs von vergangener Woche. Die höchsten Richter des Landes haben die Freierstrafen nach einem jahrelangen Rechtsstreit in letzter Instanz für zulässig erklärt. Mit mehreren Anwälten angetreten, hatte "Strass" die Aufhebung des Gesetzes verlangt.

Die Prostituierten wurden zudem von "Ärzte ohne Grenzen" unterstützt, die sich auf eine Studie der bekannten Forscherin Hélène Le Bail stützen. Sie war nach der Befragung von mehr als 500 Sexarbeiterinnen zum Schluss gekommen, dass das Gesetz für die betroffenen Prostituierten negative Auswirkungen habe: Es treibe sie in die Hinterzimmer, wo die Behörden keinen Zugriff haben. Und die von einer Buße bedrohten Kunden verlangten eine "Risikoprämie", die nicht nur finanzieller Natur sei: Sie wollen "harte" Sexpraktiken oder Geschlechtsverkehr ohne Verhütung.

Juristische Güterabwägung

Auf diese Einwände ging das Verfassungsgericht kaum ein, es argumentierte mit einer juristischen Güterabwägung: Die Absicht, gegen sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel zu kämpfen, also die Menschenwürde zu schützen, sei ebenso wichtig wie die Wahrung der persönlichen Freiheit, welche die Prostituierten angeführt hätten.

Der Verein Nid (deutsch: "Nest") begrüßte das Urteil. Er setzt sich konkret für die Rechte von Prostituierten ein, die aus Nigeria, China und Osteuropa stammen und ohne Dokumente in Frankreich leben. "Wo das Gesetz wirklich angewendet wird, geht die Prostitution zurück", kommentierte er.

Öffentliche Zustimmung

Das bestätigt Staatsanwalt Guillaume Lescaux in der südöstlich von Paris gelegenen Ex-Königsstadt Fontainebleau, wo der berühmte gleichnamige Wald ein bekannter Strich ist. Obwohl die Polizei nur Strafen von 300 Euro verhänge, sei die Prostitution dank des neuen Gesetzes rückläufig, sagt Lescaux. "Strass" wendet ein, die Frauen würden nur nach Belgien gebracht oder via Pornowebseiten in unkontrollierbare Sphären gedrängt werden.

Die französische Öffentlichkeit scheint die Strafen akzeptiert zu haben. In einer Umfrage von Jänner bezeichneten 78 Prozent der Befragten sie als eine "gute Sache". Der Wunsch der Gesetzesinitiantinnen, das älteste Gewerbe der Welt ganz "abzuschaffen", wie sie sagen, dürfte aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen. (Stefan Brändle aus Paris, 8.2.2019)