Das händische Stimmenzählen braucht Zeit, viele Freiwillige und ist fehleranfällig. Es wird trotzdem Standard bleiben.

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Das Recht auf freie, demokratische und geheime Wahlen gilt zu Recht als fundamentaler Grundpfeiler und bedeutsame Errungenschaft unserer Gesellschaft. Es muss verteidigt werden und gewahrt bleiben – aber ist die Art und Weise, wie wir wählen, unantastbar? Unveränderbar? Keineswegs. In zahlreichen Demokratien wird immer wieder an der Wahlschraube gedreht, Neues ausprobiert. Zahlreiche hochmoderne und technologisierte Staaten verzichten dennoch fast gänzlich auf technische Hilfsmittel bei Wahlen und setzen immer noch auf Stift, Papier und Urne. Auch Wahlsysteme weisen eine bemerkenswerte Konstanz auf – etwa das System der Wahlmänner in den USA. Ebenso jenes in Österreich, wo sich seit der Einführung des Verhältnis- und allgemeinen Frauenwahlrechts vor exakt 100 Jahren allenfalls Kleinigkeiten verändert haben.

Bei Nationalratswahlen geht es noch immer sehr traditionell zu. Der Einsatz moderner Maschinen beschränkt sich darauf, dass online mittels Bürgerkarte, Reisepassangaben oder Handysignatur eine Briefwahlkarte bestellt werden kann. Nachdem zahlreiche Sicherheitskriterien erfolgreich digital abgelegt wurden, ist der Weg zur Wahlkarte frei. Ausgefüllt und unterschrieben wird sie aber immer noch analog. Dann wandert sie zur guten alten Post.

Immerhin werden die händisch ausgezählten Ergebnisse jedes Sprengels auf einem Onlineportal zur Bezirkshauptmannschaft gesendet, wo diese über die Landeshauptstadt ans Innenministerium gehen. Das war es aber mit technischen Hilfen.

Möglichkeit zur Demokratisierung

Dabei gibt es schon längst Technologien, die dem Menschen diese Aufgaben abnehmen könnten, die Fehlerquellen ausschließen und Unmengen an Arbeitsstunden einsparen könnten. Das Misstrauen gegenüber der Technik hat paradoxerweise auch zur Folge, dass Wahlen weniger demokratisch sind, als sie sein könnten – dann nämlich, wenn sie wirklich allen zugänglich wären: zum Beispiel im Ausland lebenden, unter Zeitdruck stehenden, kranken, verhinderten oder schlichtweg auch faulen Menschen.

Wäre es flächendeckend möglich, via Internetvoting abzustimmen, könnte das etwa die Gefahr verlorener oder nicht ankommender Briefwahlkuverts verringern. Dass ein solches System auch in der Praxis effektiv und sicher sein kann, führt der digitale Vorreiterstaat Estland schon seit 2005 vor. Zehn bis vier Tage vor einer Wahl kann sich jeder Bürger im Onlinewahlportal die entsprechende Wahlapplikation herunterladen und anschließend gleich seine Stimme abgeben. Das Ganze geschieht binnen Minuten von zu Hause aus. Die für Esten obligatorische Bürgerkarte erlaubt Verifizierung. US-Entwickler wollen künftig die Gesichtserkennungssoftware nutzen, um den Vorgang weiter zu vereinfachen.

30 Prozent i(nternet)-Wähler

Gewählt werden kann in Estlands Frühwahlperiode so oft wie gewünscht – gezählt wird ausschließlich die letztabgegebene Stimme. Sollten sich Bürger also im letzten Moment anders entscheiden und lieber auf traditionellem Wege wählen, so ist dies während der Frühwahlperiode jederzeit möglich. Der digitale Stimmzettel wird dann annulliert. Zudem haben alle Bürger die Möglichkeit, sich separat via Smartphone auf einem mit den zentralen Wahlservern verbundenen System einzuloggen und nachzuprüfen, wie ihre Stimme gewertet wurde.

Mit dem Vertrauen der Esten in ihr System hat es trotzdem ein bisschen gedauert. Allmählich aber wächst es. Knapp 30 Prozent nutzen mittlerweile das i(nternet)-Voting. Zu Beginn waren es nur wenige Tausend. Die zusätzliche Verifikationsmöglichkeit macht es für Hacker viel schwieriger, zwei voneinander getrennte Systeme so zu manipulieren, dass keinem der Wähler eine Diskrepanz auffällt. Tauchen Bedenken auf, kann am eigentlichen Wahltag immer noch eine "analoge" Wahl stattfinden. Bisher gab es keinen einzigen Zwischenfall.

Trotzdem wird fieberhaft nach Möglichkeiten gesucht, noch sicherere Systeme zu bauen – zum Beispiel via Blockchain. Versuche aus den USA zeigen Modelle auf, die jede Einflussnahme sofort erkennen lassen. Daten werden auf so vielen Servern verteilt, dass ein Hack nur unter enormen Anstrengungen möglich wäre und dann sofort auffallen würde.

Sorgen macht den Technikern eher anderes: Die Gefahr versuchter (psychologischer) Beeinflussung gilt als wesentlich größer als die einer Störung des eigentlichen, technischen Wahlvorgangs.

Keine Sicherheitsgarantie

Eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie gibt es trotzdem nicht – aber das gilt für "analoge" Wahlen auch. Als Fehlerquelle hat sich weltweit auch immer wieder ein "Zwischenprodukt" zu erkennen gegeben: elektronische Wahlkabinen, die zwar im Wahllokal stehen, die Stimme aber digital aufzeichnen. Sie waren genau deshalb anfällig, weil sie die Fehlerquellen des alten Systems mit jenen des neuen kombinieren: Menschliche Komponenten (Maschinen zusammenbauen, transportieren, warten) treffen auf die technischen Fehlerquellen. In den USA waren das immer wieder Softwarefehler, in ärmeren Staaten häufig lokale Stromausfälle.

In Österreich gaben im vergangenen Jahr hunderttausende Menschen ihre Stimme für verschiedene Volksbegehren von zu Hause aus ab. Komplikationen gab es nur, als die Server Anfang 2018 beim Rauchverbotvolksbegehren dem Ansturm nicht standhalten konnten – ein leicht lösbares Problem. Auf STANDARD-Anfrage im Innenministerium heißt es dennoch, dass es "keinerlei Bestrebungen" gebe, die auf "beabsichtigte Änderungen des Wahlrechts in Richtung einer elektronischen Unterstützung der Stimmabgabe hindeuten". Anders in der Schweiz. Dort treibt die Post, die jährlich rund 20 Millionen Briefe für Wahlen und Referenden transportiert, Internetvoting voran. Vor dem Ersteinsatz lädt man Hacker zu einem öffentlichen Test. "Dies unterstützt eine faktenorientierte Diskussion in der Öffentlichkeit über Fragen der Sicherheit", sagt Mediensprecher François Furer. Sind die Österreicher dafür zu sehr Gewohnheitstiere? Skeptiker werden sich wohl nur von makellosen Digitalwahlen überzeugen lassen und noch lang die Möglichkeit einer analogen Wahl fordern. (Fabian Sommavilla, 9.2.2019)

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