Der Hamburger Journalist Christoph Twickel beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Venezuela. Im Jahr 2006 veröffentlichte er eine vielbeachtete Biografie des damaligen Präsidenten Hugo Chávez, seine Berichte und Analysen erschienen in mehreren deutschen Zeitungen. Mit Bert Eder unterhielt er sich über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen unter Chávez und dessen Nachfolger Nicolas Maduro.

STANDARD: Wann waren Sie zuletzt in Venezuela?

Twickel: Im Mai 2018, also kurz vor den letzten Präsidentschaftswahlen, habe ich für die "Zeit" berichtet.

STANDARD: Und seit wann verfolgen Sie die Entwicklungen dort?

Twickel: Ich habe das Land erstmals im Jahr 2004 besucht, als mit dem Referendum gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez der erste Versuch, diesen mit legalen Mitteln aus dem Amt zu entfernen, scheiterte.

STANDARD: Es gibt ja mittlerweile 19-Jährige, die kein anderes System mehr kennen …

Twickel: Die Mutter meines venezolanischen Patenkinds ist 22, fällt also fast darunter. Sie ist gerade in die USA geflogen, um dort in den fünf Monaten, die ihr das Touristenvisum erlaubt, ein paar Dollar zu verdienen, um ihr Auskommen in Venezuela zu finanzieren.

STANDARD: Ist Arbeitsmigration in die USA ein wichtiger Faktor? In der Berichterstattung über Venezuela kommt dieses Thema kaum vor …

Twickel: Inzwischen leben rund drei Millionen Venezolaner im Ausland, viele davon haben das Land in den letzten Jahren verlassen, als die Hyperinflation zuschlug, es gibt praktisch keine Familie mehr, die nicht einen Angehörigen im Ausland hat, der Großteil davon allerdings in benachbarten Ländern.

STANDARD: Als ich 2007 über die Wahl in Venezuela berichtete, haben mir Chávez-Anhänger erklärt, dass nach gewonnener Wahl ein "Hausputz", also die Entfernung korrupter Amtsträger, anstehe. Dazu ist es offenbar nicht gekommen …

Twickel: Korruption ist in Venezuela ein Argument für alles. Dass Politiker korrupt sind, wird sowohl von Regierungsanhängern als auch von Oppositionellen als Erklärung für alles Mögliche genannt. Das hat sich auch unter Chávez nicht geändert, es ist nicht gelungen, ein System von Checks und Balances einzuführen, um dies zu unterbinden. Womöglich hat die Korruption in dieser Epoche sogar zugenommen, weil Mittel über Fonds freihändig vergeben wurden und das System der flexiblen Wechselkurse, wo manche wie zum Beispiel Militärs Zugang zu günstigen Dollars haben, diese fördert. Auch die Tatsache, dass der Ölexport die fast alleinige Quelle des nationalen Reichtums ist, hat dies begünstigt: Durch die hohe Gewinnspanne gibt es viele, die da die Hand aufhalten.

STANDARD: Früher wurde Touristen in Reiseführern empfohlen, die Straßenseite zu wechseln, wenn die berüchtigte Hauptstadtpolizei "Policia Metropolitana" kommt – gab es Versuche, den Sicherheitsapparat zu einer bürgerfreundlicheren Behörde umzubauen?

Twickel: Die verschiedenen Polizeieinheiten waren in den Nullerjahren hauptsächlich ein Instrument der Landesfürsten und Bürgermeister und agierten auch politisch. Unter Chávez wurden Einheiten zusammengelegt, was aber nichts daran verändert hat, dass Polizisten wie auch Soldaten genauso von der Hyperinflation betroffen sind. Man sollte sich also weiterhin nicht sicher fühlen, wenn man in die Fänge der Polizei gerät.

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Ölförderung auf dem Maracaibo-See.
Foto: REUTERS/Isaac Urrutia/

STANDARD: Als Erklärung für die wirtschaftliche Misere des Landes wird oft der gefallene Ölpreis genannt. Allerdings liegt dieser mit etwa 40 Dollar pro Barrel immer noch auf dem Niveau von 2005 und damit deutlich über den 14 Dollar, die bei Chávez' Amtsantritt 1999 erzielt werden konnten. Warum begehen so viele Beobachter den gleichen Irrtum?

Twickel: Es ist verlockend, das auf eine einfache Formel zu bringen. Allerdings durchläuft Venezuelas Erdölindustrie seit 18 Jahren einen Verfallsprozess. Zehntausende Fachkräfte haben das Land verlassen, es wurde versäumt, in die Instandhaltung der Industrie zu investieren und neue Ölfelder zu erschließen, in den letzten zehn Jahren ist die Fördermenge dann von ungefähr drei auf mittlerweile nur noch 1,3 Millionen Barrel pro Tag eingebrochen.

Erzschmelze Ferrominera Orinoco in Ciudad Piar.
Foto: Rodrigo Abd

STANDARD: Venezuela ist neben Russland und Iran einer der Hauptunterstützer der nicaraguanischen Machthaber Daniel Ortega und Rosario Murillo. Gibt es im Land kritische Stimmen dazu?

Twickel: Der "Offizialismus", wie man in Venezuela sagt, hat sich immer in einer Front mit Ortega gesehen. Vonseiten der Opposition werden die Beziehungen zu sozialistischen oder pseudosozialistischen Ländern, besonders zu Kuba, äußerst kritisch betrachtet. Präsident Maduros Hinwendung zu Autokraten wie Tayyip Erdoğan sagt einiges über ihn und seinen Charakter aus.

Natürlich leidet das Land unter dem US-Boykott, und natürlich mischen sich die USA in Venezuela imperialistisch ein. Aber mir fällt es heutzutage schwer, hier von einer "linken Regierung" zu sprechen. Die antiimperialistische und sozialistische Rhetorik darf man nicht zu ernst nehmen. De facto hat sich Venezuela in den letzten Jahren hoch verschuldet – über Anleihen, die internationalen Fonds gehören, aber auch durch Kredite bei Russland und China.

China lässt sich dafür mit der Erdölförderungen der nächsten Jahre bezahlen. Die staatliche Ölgesellschaft PDVSA hat als Sicherheit für eine ihrer Anleihen ihre Tankstellenkette in den USA hinterlegt. Das zeigt, wie weit der Ausverkauf geht: Venezuela ist in den Händen seiner Gläubiger. Ein trauriger Endpunkt für eine Bewegung, die mal angetreten war, um Venezuela souveräner und unabhängiger zu machen.

STANDARD: Was wurde aus den Versuchen, die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren, indem man die landwirtschaftliche Produktion ankurbelt und Exporte abseits des Ölgeschäfts forciert?

Twickel: Es gab viele vielversprechende Projekte, um die Landflucht zu stoppen und eine kooperative Landwirtschaft anzukurbeln. Aber es sind auch hunderte Millionen Dollar versickert. Projekte wie Großfarmen, eine Aluminiumfabrik oder die Eisenbahn, die dann doch nie eröffnet wurden.

Verfallendes Stahlwerk in Ciudad Guayana.
Foto: Rodrigo Abd

STANDARD: Interimspräsident Juan Guaidó pflegt offenbar Kontakte zu US-Hardliner Marco Rubio, der davon träumt, die Regierungen Venezuelas, Nicaraguas und Kubas zu stürzen. Halten Sie eine US-Militärintervention für möglich?

Twickel: Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Trotz der desaströsen Lage findet sich in Venezuela auch keine Mehrheit, die eine Intervention befürworten würde, das zeigen Umfragen. (Bert Eder, 14.2.2019)