Vor fast sechs Jahren sorgte der britische Tierfilmer und Naturforscher David Attenborough für einige Diskussionen. In einem Radiointerview meinte er sinngemäß: Die Evolution des Menschen sei beendet, da wir als einzige Lebewesen der Erde in der Lage seien, 95 bis 99 Prozent der Nachkommen großzuziehen, ohne dass sie der natürlichen Selektion zum Opfer fallen.

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Das Superbaby nach Plan zu entwickeln, birgt zahlreiche Gefahren in sich.
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Haben wir also die Evolution überwunden, weil wir in zahlreichen Ländern die Kindersterblichkeit stark reduzieren konnten (in afrikanischen und asiatischen Ländern aber noch bei weitem nicht auf einem erstrebenswerten Niveau)? Diese Meinung ist relativ weit verbreitet. Schon vor Attenboroughs Aussage sah man den Menschen, so wie er gegenwärtig genetisch ausgestattet ist, als evolutionäres Meisterstück, als finalen Höhepunkt der Entwicklung. Mehrere Millionen Jahre nachdem wir uns vom Affen abgespalten haben, sollte es das gewesen sein. Wir können aufrecht gehen, also bitte, was soll da noch kommen?

Kleine Entwicklungsschritte binnen weniger Jahre

Eines vorweg: Evolution findet statt und ist nicht aufhaltbar. Das bestätigen zahlreiche Evolutionsbiologen wie Philipp Mitteröcker von der Universität Wien. Manchmal würden zwei bis drei Jahrzehnte genügen, sagt er, "man muss als Evolutionsbiologe nicht zwangsläufig in Schritten von mehreren Millionen Jahren rechnen". Evolution findet vor allem statt, weil es genetische und phänotypische Unterschiede gibt, die mit Reproduktionserfolg zu tun haben. "Und das wird langfristig auch so bleiben", sagt Mitteröcker.

Der Wissenschafter nennt ein Beispiel, über das er in den vergangenen Jahren mehrere Aufsätze im Fachjournal PNAS publizieren konnte. Dabei handelt es sich um ein evolutionäres Dilemma. Eigentlich müsste der Geburtsgang von Frauen breiter sein als bisher, um das sichere Gebären der Nachkommen zu ermöglichen. Das Becken-Kopf-Missverhältnis – der Kopf des Säuglings ist größer als der Geburtskanal – tritt daher relativ häufig auf. Andererseits ist es wohl gut, dass der Kanal nicht zu breit ist, weil es sonst zu Gebärmuttervorfällen und zu Inkontinenz käme. Das Becken der Frau muss Stabilität schaffen.

Selektionsdruck aufgrund der Malaria

Die medizinische Lösung des Dilemmas, der Kaiserschnitt, hat aber den entsprechenden evolutionären Kompromiss aufgehoben und das Dilemma offenbar verstärkt: In einer Studie konnte ein Team um Mitteröcker zeigen, dass Frauen, die durch Kaiserschnitt zur Welt kamen, häufiger ein Schädel-Becken-Missverhältnis entwickeln als Frauen, die ohne operativen Eingriff geboren wurden.

Mitteröcker nennt noch ein anderes Beispiel für menschliche Evolution in der Gegenwart. In Afrika gibt es einen massiven Selektionsdruck aufgrund von Malaria. Es hat sich deshalb ein mutiertes Hämoglobin-Gen verbreitet, das vor Infektionen durch das gefährliche Sumpffieber schützt. Haben Menschen aber zwei Hämoglobin-Gene statt nur eines, entsteht Sichelzellen-Anämie, die zur Verstopfung von Blutgefäßen führt. Der Selektionsdruck hat also dazu geführt, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Man kann zeigen, dass die Häufigkeit des mutierten Hämoglobin-Gens ein evolutionärer "Kompromiss" zwischen diesen beiden Übeln ist, so Mitteröcker.

Selektionsdruck

Ein anderes bekanntes Beispiel erwähnt der britische Evolutionsbiologe Nicholas Barton vom IST Austria in Maria Gugging bei Wien: die Laktoseintoleranz, die zu Verdauungsprobleme nach dem Genuss von Milchprodukten führt. Das sei eigentlich der Normalzustand und keine Erkrankung, doch der Mensch habe in westlichen Ländern durch den Siegeszug der Landwirtschaft und der Viehzucht die Verträglichkeit von Milchprodukten entwickelt. Der Selektionsdruck hat es möglich gemacht, weil der Mensch damit noch besser überleben konnte als ohne. In vielen Ländern besteht die Intoleranz allerdings immer noch – in Südafrika zum Beispiel oder in China. Im Reich der Mitte versucht man mittlerweile, die Evolution auszutricksen. In Peking gibt es mittlerweile Milchbars, die sehr beliebt sind – bei der Kassa wird aber jedem Kunden ein Medikament angeboten, das die unangenehmen Folgen der Laktoseintoleranz beim Stoffwechsel verhindert.


Was bringt die Zukunft? Barton sagt, die Evolution habe keine Pläne, sie sei ein nicht vorhersagbarer und auch nicht steuerbarer Prozess. In der Gegenwart ist er auch von soziokulturellen Entwicklungen beeinflusst, etwa von der modernen Medizin. Diabetes zum Beispiel war noch vor hundert Jahren eine Krankheit, mit der es kaum eine Überlebensmöglichkeit gab. Heute hat man mit neuen Medikamenten, künstlichem Insulin und flexiblem Zuckermanagement eine normale Lebenserwartung, kann aber auch die Anlagen für die Erkrankung den Nachkommen weitergeben.

Einfluss der modernen Medizin

Mitteröcker meint, man müsse sich dieser Entwicklung bewusst sein, die moderne Medizin verändere auch evolutionäre Prozesse. Durch dieses Wissen könne man medizinische und gesellschaftliche Strukturen der Biologie des Menschen besser anpassen. Die in Großbritannien vor etwa 150 Jahren entwickelte Eugenik, die in den Rassentheorien des Nationalsozialismus ihren schrecklichen Höhepunkt fand, wollte noch das Gegenteil: Der Mensch sollte mit seiner Biologie an gesellschaftliche Normen und Ideale angepasst werden.

Universität Wien

Barton und Mitteröcker warnen davor, mit Technologien in die Evolution eingreifen zu wollen. Prinzipiell sei es begrüßenswert, durch Genome-Editing im Allgemeinen und die Gen-Schere CRISPR/Cas9 im Besonderen Krankheiten ausschalten zu können. Das sei aber reine Zukunftsmusik. "Von den meisten Genen wissen wir nur, dass sie bei einer bestimmten Erkrankung eine Rolle spielen, nicht aber, welche Rollen sie noch haben, wie sie mit anderen Genen wechselwirken."

Auftritt des Scharlatans

Die Möglichkeiten, die Genome-Editing bietet, könnten natürlich Scharlatane für sich nützen, indem sie damit in die Keimbahn eingreifen. He Jiankui, mittlerweile entlassener Mitarbeiter der Southern University of Science and Technology, sorgte für negative Schlagzeilen, weil er angeblich noch ungeborene Zwillinge genetisch verändert hatte, um sie resistent gegen das HI-Virus zu machen.

Die Wissenschaft als Herrin der Evolution? Aus ethischen Gründen sei eine Manipulation am Embryo abzulehnen, sagen Experten. Auch im Sinne der ungeborenen Kinder, die dadurch vielleicht sogar andere Nachteile mitbekommen, die sie sonst nicht hätten. (Peter Illetschko, 10.2.2019)